Bewegende Kirchenlieder
Ein Traum von Freiheit
Ein 300 Jahre altes Lied vom "Durchbrecher aller Bande" begeistert den Kirchenhistoriker Johannes Schilling und lässt ihn ans Paradies denken
Über das 300 Jahre alte Lied vom "Durchbrecher aller Bande"
Ahaok
28.04.2024

Nirgends wird – aufs Ganze gesehen – so oft, so kräftig und manchmal auch so schön gesungen wie in evangelischen Gottesdiensten. Sonntag für Sonntag und an den Festen singt die ­versammelte Gemeinde alte und neue Lieder und erfreut sich daran. Auch deshalb gehe ich gern in den Gottes­dienst oder halte ihn selbst. Wenn man dann noch eine gute Kirchenmusik haben kann, freut man sich doppelt.

Singen gehört zum Menschsein. Menschen sind mit singfähigen Stimmen ausgestattet; ihr Gebrauch ist Teil der menschlichen Natur. Seit Menschengedenken ­wurde in aller Welt den Göttern gesungen, im öffentlichen Kult und im stillen Kämmerlein. Und auch die christliche ­Gemeinde war von Anfang an eine singende Gemeinde. Das bezeugen die Briefe des Neuen Testaments, in denen die Christen aufgefordert werden zum Lob Gottes. Mit dem Lob verbunden ist der Gedanke an das Kommen ­dieses Gottes und die Verwandlung der Welt – und damit die Hoffnung auf Gerechtigkeit, die Menschen nicht herstellen können.

Insbesondere Kolosser 3,16 hat in der Geschichte der christlichen Kirche und zumal der evangelischen Gesangbücher breite Wirkung erzielt: "Lasst das Wort Christi reichlich unter euch wohnen: Lehrt und ermahnt einander in aller Weisheit; mit Psalmen, Lobgesängen und geistlichen Liedern singt Gott dankbar in euren Herzen." Kaum eine Gesangbuchvorrede des 17. Jahrhunderts, in dem ­dieser Vers nicht als erneuerte Einladung an die ­singende Gemeinde aufgerufen würde.

Zu meinen Lieblingsliedern im Evangelischen Gesangbuch gehört Gottfried Arnolds (1666 – 1714) Lied "O Durchbrecher aller Bande" (EG 388) – das Freiheitslied im EG schlechthin. Nicht nur der Text, sondern auch die ­Melodie kann einen in Schwung bringen: Schon bald ändert sich die Tonart, das "Durchbrechen" führt sogleich von C- nach G-Dur. Dietrich Bonhoeffer hat das Strophenschema ­seinem Gedicht "Von guten Mächten" zugrunde gelegt und sich dabei gewiss an das "Paradies" und an die hoffnungsvollen Verse am Schluss des Liedes erinnert: "werden wir doch als wie träumen, wenn die Freiheit bricht herein".

Lesen Sie hier: Welche Erinnerungen Menschen mit Musik verbinden

1698 ist das Lied entstanden, von einem radikalen ­Pietisten, der "alles Dichten und Singen vor unnütze" hielt, "das nicht aus dem Geist Gottes fleußet". Ja, das ist sein Credo – christliche Dichtung soll zu einer intensiven Begegnung mit Gott in Jesus Christus führen: "Summa: er soll dir Eins und Alles / ja Alles in Allem werden / seyn und bleiben." Anders gesagt: Der Glaube an Gott in Jesus Christus soll die ganze Existenz bestimmen und nicht ­irgendein religiöser Sonderbereich des Lebens sein.

Der Wortlaut mancher Strophen dieses Liedes mag einem gegenwärtig fremd sein, nicht aber die Botschaft. Dass Gott alle "Bande", alle Grenzen und ­Gefangenschaften der Menschen durchbricht, ist doch unzweifelhaft ein hoffnungsvoller Gedanke – einer, der stark machen kann und stark macht. Schon in der ersten Strophe wird die ­Freiheit besungen – Gott führt aus dem "Kerker", aus den "Ketten", in denen Menschen gefangen sind oder sich selbst ­gefangen haben. Es gibt einen Ausweg, es gibt Befreiung, "wir" müssen nicht Knechte der Menschen sein.

Worauf aber gründet sich diese Hoffnung? Darauf, dass wir schon befreit sind. Im Geschick Jesu Christi, in seinem Leiden, Sterben und seiner Auferweckung ist die Freiheit für die Menschen beschlossen. Diese Freiheit kann im Glauben ergriffen werden – und hat Wirkung schon in dieser Welt. Wer sein Leben hier in der Freiheit der Kinder Gottes führt, der hat schon Anteil an dem versprochenen, also zugesagten Paradies.

Die Schlusszeilen des Liedes erinnern an die Eingangsverse vom Psalm 126: "Wenn der Herr die ­Gefangenen ­Zions erlösen wird, so werden wir sein wie die ­Träumenden. Dann wird unser Mund voll Lachens und unsre Zunge voll Rühmens sein." Im Singen ereignet sich etwas von diesem Traum – schon hier und jetzt.

Produktinfo

Johannes Schilling, Brinja Bauer, Singt dem Herrn ein neues Lied. 500 Jahre Evangelisches Gesangbuch. Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2023. 2. Aufl. 2024 296 S., zahlr. farb. Abb., Klappenbroschur, Euro 25,00 ISBN 978-3-374-07415-0

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Singt man all die schönen Lieder voller Angst und Schrecken und mit Hoffnungen, die unnahbar sind, wird man ratlos. Liest man dagegen im Auftrag der EKD all die schönen Vorschläge, kann einem grün vor Ärger über das eigene Versagen und rot vor Zorn über die Unvernunft der Bösen werden. Aber all die schönen Wünsche setzen die Idealmenschen als geklonte "Brüder" voraus. Menschen mit gleich guten Eigenschaften in einer Phantasiewelt und ohne ein Laster. Im Blut. Es ist verantwortungslos, diese Scheinwelt als möglich hinzustellen und damit Anerkennung zu fordern. Wo wird denn in den grünen Oasen und irdischen Paradiesen eigentlich gearbeitet? Arbeit braucht man nicht. "Sie säen nicht", alles fliegt doch in den Rachen! Die Neue Welt sieht ganz anders aus. Wenn man vor lauter CO2-Scham nicht in den Urlaub fliegt, sieht man ja auch nicht die Megazentren, in denen eine Strasse mit 25 Reihen-Hochäuser und 100 Höhe 40 Tsd Einwohner hat. Mittelstädte mit 4 Mio. Einwohner auf 1/3 Fläche von Berlin. Wir haben 240 EW pro Qkm. NL 426, Indien 433, Ruanda 533, Palästina 870 u. Bangladesh 1350. Und dann kommen Sie mit grünen Balkonkästen, von denen jeder einzelne täglich soviel Wasser benötigt, wie dort viele nicht trinken können. Die Diskussion in der schönen grünen protestantischen Wohlfühloase geht meilenweit an diesen Realitäten vorbei. Eine hemmungslose Arroganz von denen, die ihren eigenen Wohlstand als selbstverständlich hinnehmen, dazu ihre permanenten Weltverbesserungsideen einblenden und den Verstand für das Machbare ausblenden. Hauptsache man bekommt den gebührenden Beifall von den Brüdern im Geist, die ebenfalls nicht bereit sind, konsequent weiter zu denken. Auf wessen Kosten sie leben, welche Werte notwendig sind um die Zukunft zu gestalten, möchten Sie nicht wissen. Das täte ja weh! Kein Wort dazu, wie das Leben in 100 Jahren denkbar ist. Dabei war der Wandel schon immer ein Naturgesetz. Auch die "Schöpfung" ist nicht statisch, was die Vergangenheit beweist. Wer sich dennoch als Bewahrer der Schöpfung bezeichnet, lehrt an den Realitäten vorbei. Hellseher sind wir alle nicht. Aber sicher ist die Veränderung durch Verbrauch, Missbrauch und unsere Anzahl. Welche Werte, die künftig diesen Wandel begleiten sollen, notwendig sind, ist noch unbekannt. Die alten gehören zur Vergangenheit. Da die bisherigen Werte zum Istzustand geführt haben und dieser Weg nicht dauerhaft sein kann, werden die Werte in ihrem Inhalt ebenfalls fraglich. Politik, Philosophen, Gesellschaftswissenschaftler und allen Religionen sind die Probleme bekannt. Kein Wort von dort dazu. Die Verantwortung wird ausgeblendet. Science-Fiction wird hoffentlich die Antworten finden. Auch ein Messias, wie von vielen ersehnt, wird uns schonungslose Neuigkeiten präsentieren