Mstyslav Chernov/SWR
"20 Tage in Mariopul" - Oscar prämiert und lebensgefährlich
Für diesen Erfolg hätte der Regisseur sterben können
"20 Tage in Mariopol" bekam als bester Dokumentarfilm dieses Jahr einen Oscar. Der Film zeigt live, wie im 21. Jahrhundert eine europäische Stadt zerstört wird. Jeder und jede sollte ihn sehen
privat
19.03.2024

Ende März 2022 bekam ich einen Anruf von einer Freundin aus Kyjiw. Ihre Eltern lebten in Mariupol, einer ukrainischen Stadt, die von Russland gnadenlos zerstört wurde. Der Vater wollte im Hof Wasser holen, weil es zu Hause lange Zeit weder Wasser noch Strom gab. Eine Bombe fiel direkt in den Hof. Ihm wurden beide Beine abgerissen und er starb an einem schmerzhaften Schock. Er wurde direkt neben dem Haus begraben, weil es zu gefährlich war, weit zu gehen. 

Zwei Tage später verlor meine Freundin den Kontakt zu ihrer Mutter. Es ist ein echter Horror: zu erkennen, dass dein Vater einen schrecklichen Tod gestorben ist und keine Nachricht darüber zu haben, wo und in welchem Zustand sich deine Mutter befindet. 

Wir versuchten, ihre Mutter zu finden und benutzten alle möglichen Kontakte. Es kam jedoch die Nachricht, dass dieses Gebiet fast vollständig bombardiert worden sei. Wir hofften, dass ihre Mutter in ein anderes Gebiet evakuiert oder sogar gegen ihren Willen nach Russland gebracht wurde – wenn sie doch bitte nur am Leben wäre. Die Nachricht über sie kam erst einen Monat später. Es stellte sich heraus, dass sie versuchte, zu ihrer Tochter nach Kyjiw zu gehen, dabei jedoch verletzt wurde und in einer nahegelegenen Stadt ins Krankenhaus eingeliefert wurde. Und dort ist sie gestorben.

Der Regisseur und Fotograf Mstyslaw Tschernow, der Fotograf Evgeniy Maloletka, die Produzentin und Journalistin Vasilisa Stepanenko waren während dieser Tage in Mariupol. Sie hatten die Wahl: sofort zu evakuieren oder dokumentarische Beweise für Kriegsverbrechen und Tötungen von Zivilisten dokumentieren. Sie entschieden sich für die zweite Option. Wir alle sollten uns „20 Tage in Mariupol“ ansehen. Fünf Gründe: 

1.Die Journalisten kamen wenige Stunden vor Beginn des großen Krieges in Mariupol an. Vasilisa Stepanenko bemerkt in vielen Interviews, dass sie verstanden haben: Wenn es zu einer aggressiven Invasion kommt, wird Mariupol eine strategisch wichtige Stadt für die Russen sein. Schließlich hatten sie bereits 2014 versucht, es an sich zu reißen, aber es gelang ihnen nicht. Doch am 24. Februar um 5 Uhr morgens begannen überall in der Ukraine Angriffe: in Charkiw, in Kyjiw, in Cherson und in Tschernihiw – überall. Damit hatte niemand gerechnet. Plötzlich wurde die Arbeit von Journalisten fast unmöglich, weil Licht, Wasser und Kommunikation verschwanden. Tschernow und Maloletka versteckten sich unter der Treppe in der Nähe des zerstörten Lebensmittelladens und verschickten von dort ihre Filme und Fotos. Es war der einzige Ort in Mariupol, an dem die Kommunikation aufrechterhalten werden konnte. 

Täglich dokumentierten Journalisten schreckliche Ereignisse in der Stadt: den Tod von Kindern und Erwachsenen, die Anlage von Massengräbern, die Zerstörung einer Entbindungsklinik durch eine russische Fliegerbombe und andere Kriegsverbrechen. Keiner im Team war auf einen solch aggressiven Angriff und Brutalität seitens Russlands vorbereitet. Sie hatten nicht vor, einen Dokumentarfilm über den Krieg in Mariupol zu drehen. Sie beschlossen, dies direkt vor Ort, im Epizentrum der Ereignisse, zu tun.

2. Tschernow, Maloletka und Stepanenko waren die einzigen Journalisten, die zu Beginn der umfassenden russischen Invasion der Ukraine in Mariupol blieben. Und das ist ein weiterer wichtiger Grund, diesen Film anzuschauen: die Realität jedes Bildes und das Fehlen jeglicher Propaganda, Manipulation oder Verzerrung von Fakten. Die Journalisten hatten kein vorheriges Drehbuch und keine Anweisungen, wie dieser Film gemacht werden sollte. Sie befanden sich einfach im Epizentrum des Geschehens und filmten live, was passiert. Den Dokumentarfilmern gelang es, etwa 10 % des Filmmaterials von dem einzigen Punkt in der Stadt zu senden, an dem es ein Mobilfunksignal gab. Über den humanitären Korridor wurden etwa 30 Stunden Videomaterial exportiert.

Lesen Sie auch: Wie aus einem friedlichen Wald in der Ukraine ein Schauplatz des Krieges wurde

Der Film ist in Form eines Tagebuchs gehalten, sodass alle Ereignisse von echten Emotionen und Eindrücken der Journalisten sowie vom tatsächlichen Schockzustand der zivilen Bewohner*innen von Mariupol begleitet werden. Daher ist dies für die Zuschauer eine echte und ehrliche Gelegenheit, zu sehen, was tatsächlich in Mariupol am Anfang des großen Krieges in der Ukraine geschah.

3. Dieser Dokumentarfilm ist wahrscheinlich der teuerste Film, der jemals von der Amerikanischen Filmacademy bewertet wurde. Schließlich war die Entstehung dieses Films ein absolutes Risiko für das Leben des gesamten Teams, und das ist "teurer" erkauft als alle Millionen an Drehkosten. Allerdings gingen nicht nur Journalisten Risiken ein, sondern auch diejenigen, die ihnen halfen. Unter ihnen ist der Polizist Wolodymyr Nikulin. Er half den Journalisten, sich durch die Stadt zu bewegen, und dann war er es, der sie aus der besetzten Stadt herausholte. Zusammen mit Wolodymyr fuhren die Journalisten in einem von Granaten beschädigten Auto durch 15 feindliche Straßensperren (100 km russisch besetztes Gebiet), und unter den Sitzen des Autos waren Kameras mit Material versteckt, für das sie erschossen werden könnten.

Wolodymyr ist jetzt für das gesamte Team eine sehr enge Person. Er arbeitet weiterhin als Polizist in der Gebiet Donezk und hilft den Menschen. Vor einigen Monaten wurde er in Pokrowsk verwundet, weil dort eine russische Rakete flog. Das Fragment drang in seine Lunge ein, aber er wurde gerettet. Wolodymyr wurde rehabilitiert und fühlt sich jetzt wohl.

Besonderer Dank gilt den Helden*innen, jeder Person, die sich nicht scheute, vor der Kamera über reale Ereignisse in der Stadt auszusagen. Jeder, der dem Filmteam half, riskierte zweimal sein Leben.

4. Der Film „20 Tage in Mariupol“ erhielt auch mehrere andere Auszeichnungen. Darunter sind der BAFTA Film Award und der Sundance Film Festival (Audience Award). Journalisten erhielten im Mai 2023 außerdem den Pulitzer-Preis für eine Reihe journalistischer Materialien über die Belagerung von Mariupol.

Dies zeigt, dass es sich um eine wirklich bedeutende und professionelle Arbeit von Journalisten handelt, die für die Weltgemeinschaft wichtige Botschaften hat.

5. Diesen Film zu sehen bedeutet, demokratische europäische Werte zu unterstützen. Jeder Ukrainer hat mittlerweile große Angst vor der Erkenntnis, dass man im Schlaf durch eine Bombe getötet werden kann und der Mörder dafür keine Strafe erhält. In der Welt (und in Deutschland auch) ist mittlerweile sehr häufig die Meinung zu hören, dass die Ukraine aufgeben und Zugeständnisse gegenüber Russland machen sollte. Das hat der Papst Franziskus neulich sogar gesagt . Das ist für jeden Ukrainer sehr schmerzhaft und traurig zu hören. Schließlich haben wir jeden Tag diese schrecklichen Szenen vor Augen: wie den Eltern die Beine abgerissen werden, wie die Leichen von Babys in Kellern gefunden werden, wie ein sechsjähriges Mädchen im Keller an Dehydrierung starb, wie Kinder werden ihren Eltern entrissen und gewaltsam nach Russland gebracht (den Angaben zufolge wurden mehr als 700.000 ukrainische Kinder weggebracht).

Aufzugeben und gegenüber Russland Zugeständnisse zu machen, ist für die Ukrainer so, als würde man einer Frau, die brutal vergewaltigt wurde, sagen, sie solle ihre Aussage aus der Polizei zurückziehen und sich mit dem Vergewaltiger verabreden, um eine herzliche, friedliche Beziehung aufzubauen. Können Sie sich eine solche Vergewaltigungssituation in Deutschland vorstellen? Warum bieten dann so viele Europäer der Ukraine diese Option an?

Der Krieg und die Tötung von Zivilisten in der Ukraine dauern nun schon seit zwei Jahren an. Dennoch haben die Ukrainer weiterhin Hoffnung, dass sich europäische Werte gewinnen werden. Dass die Schuldigen vor Gericht gestellt werden und das menschliche Leben von höchstem Wert ist. Schließlich ist es NICHT ERLAUBT, einfach nur für Gas/Öl/Gebiete/mythische „Spezialoperationen“ usw. zu kommen und Menschen zu töten. Im Film „20 Tage in Mariupol“ geht es genau darum: Man kann keine Menschen töten. Man soll nur die Leben retten.

Den Film könnt Ihr in Deutschland bis zum 19.05. auf  ARD Mediathek kostenlos anschauen.

 

Die Kommentarfunktion ist nur noch für registrierte Nutzer verfügbar. Um einen Leserkommentar schreiben zu können, schließen Sie bitte ein Abo ab, schreiben Sie uns eine Mail an leserpost@chrismon.de oder diskutieren Sie auf Instagram, Facebook und LinkedIn mit.
Permalink

"Journalisten erhielten im Mai 2023 außerdem den Pulitzer-Preis für [...]
Dies zeigt, dass es sich um eine wirklich bedeutende und professionelle Arbeit ..."

Nee, das zeigt vor allem die korrumpierte Perversion, der heuchlerisch-verlogenen Schuld- und Sündenbocksuche.

Kolumne

Tamriko Sholi

Wer bin ich, wenn ich keine Heimatgefühle mehr habe? Was machen Krieg und Flüchtingsdasein mit mir? Darüber schreibt die ukrainisch-georgische Schriftstellerin Tamriko Sholi in Transitraum