Weihnachten im Bahnhofsviertel
Lange Nacht am Heiligen Abend
Die Obdachlosen aus dem Frankfurter Bahnhofsviertel leben neben Armutsprostitution und einer offenen Drogenszene. An Heiligabend öffnet dort eine Kirche ihre Tore und wird für eine Nacht zur Herberge, mit Weihnachtsessen und einem Gottesdienst
Lange Nacht am Heiligen Abend in der Weißfrauen-Diakoniekirche Frankfurt
Voll wird es in der Weißfrauen-Diakoniekirche. 350 Menschen kommen dieses Jahr zu der "Langen Nacht"
Marie Kröger
Tim Wegner
28.12.2023
4Min

In den Frankfurter Finanztürmen brennt vereinzelt Licht. Das Geld arbeitet auch an Heiligabend. Doch gegenüber im Bahnhofsviertel herrscht gespenstische Leere. In den Hauseingängen, wo normalerweise Junkies sitzen, sich einen Schuss setzen oder eine Crackpfeife rauchen, sitzt heute Abend niemand, sogar im sonst überfüllten Konsumraum für Drogenabhängige in der Niddastraße verrät ein grelles Leuchtschild "Freie Plätze".

Nur in der Weserstraße ist alles anders. Die muslimische Bäckerei "Bread & More" ist voller Menschen und hell erleuchtet. Und einige Meter weiter warten über 50 Menschen vor den hohen Toren der Weißfrauenkirche. Die meisten von ihnen sind bepackt mit großen Ruck- und Schlafsäcken. "Wann können wir endlich rein?", fragt ein älterer Herr ungeduldig einen der Security-Männer. Sonst wird nicht gesprochen, die meisten hier haben sich vorher noch nie gesehen. Trotzdem wollen sie heute gemeinsam feiern.

Anja Tonn, 55, hilft seit 15 Jahren bei der Langen Nacht. Neben ihrem Ehrenamt arbeitet die Frankfurterin bei der Europäischen Zentralbank im Projektmanagement. "Das Fest ist für mich auch eine Gelegenheit, um zu schauen, wer ist noch da, wer lebt noch"
Cedric Goltermann, 21, hat Melissa Hoffmann, 21, mitgebracht, beide studieren Psychologie. Nachdem seine Mutter verstarb, half Goltermann schon mehrere Jahre mit seinem Vater aus. "So können wir den Abend sinnvoll füllen." Beide sind von der Organisation begeistert und wollen nächstes Jahr wiederkommen

350 Menschen kommen dieses Jahr zu der "Langen Nacht am Heiligen Abend", dem Weihnachtsfest, zu dem die Diakonie Frankfurt und Offenbach seit 2004 jedes Jahr einlädt. Obdachlose, Wohnungslose, Flüchtlinge, aber auch Menschen, die keine Familie haben und sonst allein zu Hause sitzen würden.

Bis zum Einlass sind es jetzt noch wenige Minuten. Mehr als 40 Helferinnen laufen in lila Westen hektisch durch die Kirche. Auf den Esstischen stehen selbst gebastelte, bunt beklebte Windlichter, die gemütliches Licht erzeugen, und laminierte Weihnachtskarten zum Verschenken. Gesanghefte liegen wie Menükarten auf jedem Platz.

Victor Starr organisiert seit 2009 die Veranstaltung mit. Die Planung fängt schon im Oktober an, dafür nimmt er sich extra Urlaub. Für ihn ist es ein sehr emotionaler Abend

Im Eingang der Kirche steht Victor Starr, 64, edles Jackett, Krawatte mit Nadel. Der gebürtige US-Amerikaner wendet sich wie ein Dirigent mal der einen Helferin zu, "Alles ok bei dir?", mal der nächsten, "Brauchst du noch Hilfe?", "Hast du die Teller gefunden?". Und wie in einem guten Orchester greift eines ins andere, keine Hektik, kein Stress. Alle spielen zusammen. Starr arbeitet normalerweise als Fluglotse am Frankfurter Flughafen. Heute lotst er die lila Westen souverän durch die Gegend.

Starr ist Jude und feiert kein Weihnachten. In seiner Heimat New York im Stadtteil Queens half er jedes Jahr am Heiligabend in einer Suppenküche aus. Als er der Liebe wegen nach Frankfurt zog, vermisste Starr seine Aufgabe. Seit vielen Jahren managt er nun die Lange Nacht, erklärt er in einem breiten amerikanischen Akzent.

18 Uhr, die Orgel ertönt. Der Gottesdienst fängt an. Die Tische im Saal sind voll. Es ist kalt, viele tragen noch Mützen und Schals. Gesanghefte in mehreren Sprachen liegen auf den Tischen. Pastor Gunter Volz wird später noch einmal auf Polnisch reden, auf Spanisch und Englisch und sogar Russisch.

Die Lange Nacht als Nacht der Lichter: Auf den Tischen liegen kleine Kerzen, die jeder Gast für das Abschlusslied anzünden kann

In den Gesichtern der Menschen lässt sich erkennen, dass nicht alle ihn verstehen. Trotzdem sitzen sie mit geradem Rücken ruhig an ihrem Tisch und halten Blickkontakt. Als eine alkoholisiert wirkende Frau immer wieder versucht, lautstark ein Gespräch anzufangen, ertönt ein energisches "Psssscht!". Zwei ukrainische Männer wollen unbedingt verstehen, was der Pastor sagt. Mit ihren Handys versuchen sie, das Gesangheft zu übersetzen.

Als die Orgel "Stille Nacht, Heilige Nacht" anspielt, legen die meisten ihre Gesanghefte zur Seite. Das Lied kennen sie. Jetzt blicken viele ins Leere, manche singen mit. Ein anrührender Moment. Wenigstens heute Abend möchte ihnen niemand den Platz wegnehmen, für Essen ist auch gesorgt, ein Dach über dem Kopf.

Um Punkt 19 Uhr gibt es Klöße mit Gulasch, Frikassee und Curry. Die Helfer versorgen die Gäste mit Brot, schenken Wasser oder Apfelschorle nach. Tanja* und Sabine* kennen sich aus einem Wohnheim für Frauen und haben sich für heute Abend in der Weißfrauenkirche verabredet. "Bevor wir beide alleine sind, sind wir hier zusammen alleine", sagt Sabine, die noch in dem Heim wohnt. Tanja hat mittlerweile eine eigene Wohnung gefunden.

Auf dem Altar kann jeder eine Kerze anzünden

Am nächsten Morgen um 7 Uhr liegen vor dem Altar noch zehn Personen in Schlafsäcken. Die Tische stehen schon wieder im großen Saal. 20 Gäste haben sich vor einem großen Fernseher versammelt und schauen sich – ausgerechnet! – den Film "Da Vinci Code" an, den verfilmten Weltbestseller "Sakrileg" von Dan Brown.

Michael aus Polen ist 29 Jahre alt und spricht kaum Deutsch. Er lebt in Offenbach und sammelt dort Pfandflaschen. Wie ein Obdachloser sieht er nicht aus, er trägt eine sportliche Segeljacke. Er kommt gerade vom Frühstücksbuffet, hat für seine Sitznachbarn Weintrauben mitgebracht. Mit einem breiten Lächeln bietet er den anderen davon an. Großzügig sein, den anderen etwas ausgeben zu können – das sei für ihn Weihnachten, sagt er.

* Namen von der Redaktion geändert

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Ich wohne seit 42 Jahren in West Yorkshire in den Pennines. Seit Jahren treffe ich mich jeden Dienstag bei jedem Wetter mit einem oder zwei Freunden zu einer Wanderung. Wir gehen relativ langsam, bleiben ab und zu stehen,um einem Bach oder Vogel zuzuhören oder um einen Ausblick zu genießen. Meistens kehren wir in einem Café zu einer Tasse Kaffee ein. Wir haben interessante Gespräche oder gehen auch mal eine Weile schweigend.