Geflüchtete - Friede, Peace, Salam
Geflüchtete - Friede, Peace, Salam
Peter Dahm, Hans-Albert Limbrock
Friede, Peace, Salam
Heiligabend feierte Superintendent Manuel Schilling mit seiner Familie in der Flüchtlingsaufnahme eine Andacht. Ein tolles Erlebnis, findet er. Da sollte sich die Kirche öfter blicken lassen, auch zu Ostern
Portrait Burkhard Weitz, verantwortlicher Redakteur für chrismon plusLena Uphoff
11.03.2022

chrismon: Zehn Tage vor Heiligabend 2021 erfuhren Sie: Bei den Geflüchteten in der "Zentralen Unterbringungseinrichtung" Soest, der ZUE, liegen die Nerven blank. Die Bewohner bräuchten dringend Außenkontakte. Wie kamen Sie darauf, dort Weihnachten zu feiern?

Manuel Schilling: Ich konnte mir nicht vorstellen, Weihnachten in der warmen Kirche zu beten und im ­geschmückten Haus drei Tage zu feiern und in der ZUE findet Weihnachten nicht statt.

Manuel SchillingPeter Dahm, Hans-Albert Limbrock

Manuel Schilling

Manuel Schilling, Jahrgang 1967, ist ­Superintendent des Kirchenkreises Soest-Arnsberg in Westfalen und ist verheiratet. Das Paar hat fünf ­Kinder. Der promovierte Theologe ist auch als Kirchen­musiker ausgebildet.
Portrait Burkhard Weitz, verantwortlicher Redakteur für chrismon plusLena Uphoff

Burkhard Weitz

Burkhard Weitz war als chrismon-Redakteur bis Oktober 2022 verantwortlich für die Aboausgabe chrismon plus. Er studierte Theologie und Religionswissenschaften in Bielefeld, Hamburg, Amsterdam (Niederlande) und Philadelphia (USA). Über eine freie Mitarbeit kam er zum "Deutschen Allgemeinen Sonntagsblatt" und war mehrfach auf Recherchen in den USA, im Nahen Osten und in Westafrika. Seit November 2022 betreut er als ordinierter Pfarrer eine Gemeinde in Offenbach.

Was genau ist denn eine ZUE?

Das letzte Haus der Stadt Soest, wenn man nach Süden fährt, war lange eine leer stehende Kaserne. Jetzt ist sie frisch renoviert für Geflüchtete, die auf ihre Anerkennung als Asylsuchende warten. Sie werden hier untergebracht, bis man weiß, wo sie dauerhaft unterkommen. In Nord­rhein-Westfalen heißen diese Übergangsheime "Zentrale Unterbringungseinrichtung", abgekürzt: ZUE.

Und warum lagen da die Nerven blank?

Die Corona-Schutzvorschriften waren verschärft worden. Die Zusammenarbeit mit externen Partnern wie der Diakonie musste ruhen. Die Menschen dort sind ohnehin verunsichert und fragen sich: Wie geht es mit meinem Verfahren weiter, wie mit meinem Leben? Mir wurde gesagt: Diese Menschen haben ein Bedürfnis nach Begegnung und Integration in das deutsche Umfeld. Davon gibt es ohne- hin zu wenig. Aber nun waren sie ganz abgeschnitten.

Kirchliches Engagement - nicht unbedingt erwünscht

Wussten Sie, dass da Christen waren, die Weihnachten feiern wollten?

Nein. Die Behörden erfragen die Religionszugehörigkeit nicht, heißt es, also weiß das niemand so genau. Außerdem ändert sich die Zusammensetzung ständig. Es ist nicht kalkulierbar, wie lange einzelne Personen oder Familien da sind. Einige bleiben nur sehr kurz, manche schlimmstenfalls bis zu zwei Jahren. Der Entscheid, dass jemand die ZUE verlässt, kann sehr plötzlich kommen. Für die Betroffenen ist das eine extreme Belastung, nicht zu wissen, wie es weitergeht.

Und Sie konnten einfach so dahin?

Ich habe bei der Bezirksregierung angefragt. Die zuständige Dame hat uns ausdrücklich ermutigt. Auch dem Umfeldmanager der ZUE leuchtete ein, dass eine Andacht den Menschen guttun werde. Sicherlich hat diese Offenheit auch damit zu tun, dass die Malteser das Haus betreiben. Wir haben noch zwei weitere solcher Einrichtungen im Kirchenkreis mit anderen Trägern, eine davon ist richtig weit abgelegen. Bei ihnen scheint kirchliches Engagement nicht unbedingt erwünscht zu sein.

Mit Geflüchteten Weihnachten zu Hause gefeiert

Sie sind dann Heiligabend mit dem Familienbulli, Ihrer Frau und den fünf Kindern losgefahren, mit einem E-Piano und zwei Kartons voll mit Spritzgebäck und Spekulatius, abgepackt in kleinen Plastiktüten.

Und einer Ehrenamtlichen, die sich in der ZUE engagieren will und Blockflöte spielen kann. Alle hatten ihre Aufgabe. Meine Frau kommt aus Frankreich und kann ins Fran­zösische übersetzen. Unser Sohn Paul ins Englische. Myriam liest die deutschen Lesungen, Jacob spielt Klavier. Johann, unser Ältester – er dreht Dokumentarfilme und hat viel Erfahrung mit der Flüchtlingsarbeit – hat sich um Emily gekümmert, unsere Jüngste. Emily wollte die Plätzchen verteilen für Menschen, die Weihnachten sonst nichts kriegen.

Das hat Ihre Familie klaglos mitgemacht?

Wir haben schon mehrfach mit Geflüchteten Weihnachten bei uns zu Hause gefeiert. Auch beim Kindergottesdienst haben Geflüchtete mitgearbeitet. Pfarrerskinder sind gewohnt, dass man Heiligabend viel unterwegs ist.

Wie kam die Andacht an?

Schon 20 Minuten vorher saßen einige Kinder in der ­ers­ten Reihe in der Kantine. Ein Mädchen hatte seine Puppe im Arm. Wir kamen mit Worten nicht weit, also haben wir Pantomime gemacht. Die Kinder rückten mit ihren Stühlen immer näher. Dann kamen etwa 50 Personen dazu. Als Jacob Klavier spielte, hielten sie ihre Handys hoch und filmten. Es wurden immer mehr. Am Ende waren wir 300.

In der ist heut Kanaal-van-Wessem- Kaserne eine "Zentrale Unter-bringungseinrichtung"

Was haben Sie denen denn gesagt?

Wir haben ein "Gloria" gesungen und "Amen". Die Leute haben mitgesungen und -geklatscht. Das "Halleluja" ­habe ich weggelassen, weil mir der Gedanke kam, dass in der Schlusssilbe "-ja" der Gottesname "Jahwe" enthalten ist und dass es Muslimen schwerfallen könnte, das mitzusprechen. Dann habe ich gepredigt: "Weihnachten ist, wenn Gott im Himmel nach unten auf die Erde kommt. Und wenn er kommt, kommt er zu jedem von uns. Und wenn er zu jedem kommt, dann ist Friede." Ich habe mit dem Finger "oben" und "unten" und "zu uns allen" gezeigt und beim Wort "Friede" die Hände miteinander ver­bunden. Paul rief durchs Megafon: "Peace!", die Leute riefen "Peace!" Meine Frau rief "La Paix!" – "La Paix!", der Übersetzer aus der ZUE "Salam!" – "Salam!" Das hatte skurrile Züge, aber es war ein toller Moment. Beim Vaterunser entstand ein vielsprachiges Gemurmel. Vielleicht waren an die 20 Christen da.

Und für sie waren Sie gekommen?

Ja, das durften sie von uns erwarten, dass wir zusammen mit ihnen die Geburt Jesu feiern.

Aber die meisten waren doch Muslime!

Vielleicht konnten sie einiges nur schwer annehmen. Aber sie wussten vorher, dass es ein christlicher Gottesdienst war, und kamen freiwillig.

Dort warten Menschen auf die christliche Botschaft

Sie wollen zu Ostern wieder hin, diesmal mit Ehrenamtlichen. Was hat die Kirche in der ZUE zu suchen?

Ich sehe drei Gründe, weshalb wir als Kirche dorthin gehen sollten. Erstens, die gesellschaftspolitische Verantwortung. Die Flüchtlinge werden in unserem Bundesland NRW verschämt behandelt, sie sollen keine Mühe machen, sie sollen nicht zu viele sein. Aber so dürfen wir sie nicht wahrnehmen. Da gibt es sicher auch viele Geflüchtete, die nicht ihr Recht finden. Sie brauchen Unterstützung. Das Zweite ist unser diakonischer Auftrag: Der Besuch von Gefangenen und Bedürftigen gehört zu den Werken der Barmherzigkeit. Und drittens glaube ich: Dort warten auch Menschen auf die christliche Botschaft. Das muss natürlich mit einer interreligiösen Sensibilität verbunden sein. Übergangsheime sollten aber kein religionsfreier Raum sein.

Wie werden Sie die Osterbotschaft erklären?

Vielleicht so: "Da war jemand tot. Man hat ihm wehgetan. Dieser Mensch ist jetzt bei Gott und Herr über die Welt. Er ist auch für euch da." Ich kann mir vorstellen, dass zu Ostern die Zusage tröstlich sein kann: "Deine Demütigung hat dich nicht völlig entwertet."

"Können Sie mir sagen, wann ich hier rauskomme?"

Demütigung?

Viele, die zu uns geflüchtet sind, haben in ihrem Land Herabsetzung und Demütigung erlebt und auf der Flucht Gefährdung. Und in Deutschland haben sicherlich viele auch erfahren, nicht erwünscht zu sein.

Was erhoffen sich die Geflüchteten von Ihnen?

Das müssen wir noch herausfinden. Unser Ältester, Johann, kam mit einer Frau ins Gespräch. Sie sagte: "Ich bin schwanger. Mit den anderen auf einem Zimmer habe ich keine Intimsphäre. Können Sie mir sagen, wann ich hier rauskomme? Wir möchten euch wiedersehen, damit ihr uns das sagt." Da musste mein 21-jähriger Sohn sagen: "Ich kann Ihre Frage nicht beantworten. Vielleicht sehen wir uns nicht wieder." Das gehört zur Bitterkeit der Situation.

Nun empfehlen Sie als Superintendent Ihren Kirchen­gemeinden, dass sie sich in den Übergangsunterkünften engagieren. Haben Gemeinden nicht schon genug zu tun?

Wir sind ja als Kirche auf dem Weg in die Minderheit. Aber die Erfahrung an Heiligabend war: Es gibt noch Aufgaben, die über die pflegliche Schließung von einer Filiale nach der anderen hinausgehen. Wir können uns auch öffnen, uns aufmachen, uns beschenken lassen und das in unser normales Gemeindeleben integrieren. Die ­Erfahrung hat mir Hoffnung gegeben, und dazu möchte ich andere ermutigen.

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