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Wir müssen über Kinder reden. Zu Weihnachten wird gern und viel über Kinder geredet: Gott kommt in einem Kind zur Welt! Was im Dezember gefeiert wird, darf im Mai nicht leeres Gerede gewesen sein.
Einer, der das ganze Jahr über, ja sein Leben lang Ernst damit gemacht hat, war Johann Amos Comenius. Der evangelische Theologe dachte als Erster konsequent vom Kind her. Er glaubte an die Kraft des Kindes, an dessen Lernlust und Neugier. "Aus jedem Menschen kann ein Mensch werden, wenn nicht einer auftritt, der die Sache verdirbt", hat Comenius gesagt. Darum wollte er die allgemeine Schulpflicht. Den Unterricht stellte er sich so vor, dass "die Lehrer weniger zu lehren brauchen, die Schüler dennoch mehr lernen, in den Schulen weniger Lärm, Überdruß und unnütze Mühe herrsche, dafür mehr Freiheit, Vergnügen und wahrhafter Fortschritt".
Annette Kurschus
Was Comenius 1657 geschrieben hat, lässt heute viele bitter auflachen. Nach drei Jahren Pandemie fragen die Lehrerinnen und Lehrer: Wo anfangen und wo aufhören mit dem, was wir lehren und nachholen sollen? Und die Schülerinnen und Schüler strotzen keineswegs vor Freiheit und Vergnügen; die allermeisten empfinden Druck, Überforderung und Traurigkeit: Liebe Schule, wir können nicht mehr, und so wollen wir nicht mehr! Einige haben einen Brandbrief geschrieben. Immerhin! Das ist tausendmal besser als depressiver Rückzug oder dumpfe Verweigerung. Ein Pfarrkollege, der an der berufsbildenden Schule unterrichtet, erzählt bekümmert: Viele sehen wir kaum oder überhaupt nicht. Die kommen gar nicht mehr.
". . . wenn nicht einer auftritt, der die Sache verdirbt." Corona trat auf, und die Kinder und Jugendlichen konnten monatelang nicht in die Schule gehen, viele waren eingesperrt in engen Wohnungen, erlebten Familienstreit und -stress, mussten auf Freunde und Freiheiten verzichten – und das alles in einem Klima der allgemeinen Angst. Das Virus hat ohne Zweifel viel verdorben. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte klärt gerade, ob die Schulschließungen 2021 die Kinder in ihren Rechten verletzt haben. Er will von der Bundesregierung wissen, ob das Kindeswohl der zentrale Maßstab gewesen ist. Das Gericht wird ein wichtiges juristisches Urteil sprechen; es wird jedoch kein moralisches Urteil sein. Nachher weiß man es eben besser und muss das bessere Wissen dann auch anwenden.
Die Sache ist aber verdorben worden lange vor Corona, und das lag nicht am Unwissen. Das lag und liegt an üblen Vorurteilen gegenüber armen Eltern, sie würden zusätzliches Geld eh nur für Alkohol, Zigaretten und Klimbim ausgeben. Das ist böswillig und die Unwahrheit. Warum fehlt noch immer der Wille, Kinder materiell so auszustatten, dass sie genug haben? Fast drei Millionen leben in Armut, doch bei der beschlossenen Kindergrundsicherung gibt es erst mal: Streit! Es wird erbärmlich geknickert und gemickert.
Auch Kinder ohne Geldsorgen stehen unter Druck. Breit und breiter macht sich die Auffassung: Wir müssen unsere Kinder "fit machen für die Zukunft". "Fit" heißt auf Deutsch: "passend". Und was nicht passt, wird passend gemacht? So dürfen wir doch nicht denken! Geradewegs umgekehrt muss es sein: Die Zukunft muss passend werden für die Kinder und also auch für ihre Eltern, im Kleinen wie im Großen.
Remo Largo, der 2020 verstorbene weltberühmte Kinderarzt, ein Comenius unserer Zeit, hat gesagt: "Ein passendes Leben zu führen ist ein Menschenrecht." Zeitenwende hat er diesen Perspektivwechsel genannt. Die jetzt angekündigte andere Zeitenwende darf die Sache nicht verderben. Es wird Zeit, dass Weihnachten wird. Es wird Zeit, nicht nur über Kinder zu reden, sondern etwas für sie zu tun.
Chrismon 5.23: Anette Kurschus: Von den Kindern her denken
Ihrer Meinung zur Kindergrundsicherung kann ich nicht zustimmen.
Ein Großteil der Eltern, deren Kinder in Deutschland in relativer (auf den Bezug auf Armutsdefinitionen wird in Appellen wie dem Ihren gerne verzichtet) Armut leben, ist erst seit einigen Jahren mit der Asylmigration ins Land gekommen. Sie leben von Sozialleistungen oder sind häufig in prekären Arbeitsverhältnissen beschäftigt. Allerdings unterstützen die allermeisten von ihnen – menschlich verständlich – auch Ihre Familien in den Herkunftsländern finanziell. Das demnächst besser zugängliche Geld aus der Kindergrundsicherung dürfte somit zum Teil in die Heimatländer geschickt werden. Das wäre eine Fehlallokation der nach den vielen Krisen längst nicht mehr ausreichenden Steuermittel, die den erwünschten Zweck, die Teilhabechancen der betroffenen Kinder in Deutschland zu verbessern, nicht erfüllt.
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Sehr geehrte Frau Kurschus,
Sehr geehrte Frau Kurschus,
Ihre Kolumne „Von den Kindern her denken“ (Chrismon 05.2023) habe ich mit großem Interesse gelesen. Nach meiner Wahrnehmung ist dieses Denken in unserer Gesellschaft leider nur punktuell zu finden. Aber vielleicht können Sie, Frau Ott und „Chrismon“ mit weiteren Artikeln zu dieser Thematik wesentlich mit dazu beitragen, dass diese Perspektive sichtbarer wird und in unserer Gesellschaft besser verstanden und mehr gelebt wird?!
Das Zitat von Comenius finde ich sehr treffend. Danke. Die Sichtweise von Remo Largo und seine lebenslangen Bemühungen, Eltern (und die Gesellschaft) für diese Sichtweise zu sensibilisieren, sind mir gut vertraut. Ich bin selbst Kinder- und Jugendarzt (lange pensioniert), beschäftige mich mit diesen Zusammenhängen seit vielen Jahren – und sehe die Dinge ganz ähnlich wie Remo Largo.
Einige von denen, die Remo Largo persönlich gut kannten, berichten, dass er in seinen letzten Lebensjahren zunehmend das Gefühl hatte, mit seinem Anliegen - trotz aller Anstrengungen und aller Erfolge - nicht wirklich durchgedrungen zu sein, nicht zu den Eltern und auch nicht zu den Entscheidern in Politik und Wirtschaft. Er beklagte, dass die Zahl der bindungsarmen, emotional vernachlässigten und verhaltensauffälligen Kinder und Jugendlichen in unserer Gesellschaft kontinuierlich zunehme.
Für die, die sich mit den essentiellen seelischen Bedürfnissen von Kindern auskennen (z.B. Psychologinnen, Psychotherapeuten, Bindungsforschern), ist unübersehbar, dass diese Kind-Bedürfnisse in unserer Gesellschaft seit Jahren systematisch vernachlässigt werden. Besonders schwerwiegend ist diese Vernachlässigung in den ersten Lebensjahren des Kindes – die Folgen dieser Defiziterfahrungen sind oft lebenslang wirksam.
Ohne den von Ihnen angedeuteten grundsätzlichen Perspektivwechsel im Denken und Handeln („von den Kindern her denken“) wird sich da wohl wenig ändern. Die gesellschaftlichen Mechanismen, die sich in den vergangenen Jahrzehnten eingespielt haben – insbesondere die frühe und langdauernde Institutionalisierung der Kinder in Krippe und Kita - sind etabliert, sie werden nicht in Frage gestellt, als Fortschritt verkauft und reichlich genutzt. Nicht wahrgenommen wird häufig, dass hierbei die zentralen seelischen Bedürfnisse von kleinen Kindern (Neugeborenen, Säuglingen, Kleinkindern) regelmäßig übergangen und nicht erfüllt werden. Im Vordergrund stehen meist die Bedürfnisse der Erwachsenen – der Mütter und Väter, die arbeiten wollen/müssen und der Wirtschaft, die auf der Suche nach Arbeitskräften ist.
Die meisten Erwachsenen haben sich nie damit beschäftigt, mit welchen seelischen Bedürfnissen Kinder auf die Welt kommen, und wie sie als Erwachsene dafür sorgen können, dass diese Bedürfnisse gut „gesättigt“ werden – auch die meisten werdenden Eltern haben hierzu keine differenzierte eigene Meinung. Mit den körperlichen Bedürfnissen der Kinder kennen sich die meisten Eltern aus, im Hinblick auf die seelischen Bedürfnisse sind sie häufig ahnungslos. Kinder in den ersten Lebensjahren sind aber darauf angewiesen, dass ihre Eltern auf diesem Sektor viel Ahnung haben und mit ihrer ganzen Person für die seelischen Bedürfnisse ihres Kindes eintreten – auch wenn die Gesellschaft völlig andere Prioritäten verfolgt. Kinder brauchen Erwachsene, auf die sie sich verlassen können. Sie haben keine eigene Stimme. Ihre Bedürfnisse werden übersehen, wenn sie nicht von ihren Eltern lautstark und unüberhörbar immer wieder artikuliert werden.
Mütter und Väter sollten deshalb tief verstanden haben, dass sie in den ersten Lebensjahren für ihr Kind die wichtigsten Bindungspersonen sind, verlässliche und feinfühlige Begleiter auf dem Weg ins Leben. Die Kurzversion dieses Prozesses heißt: „Der Mensch wird am Du zum Ich“ (Martin Buber).
Aus meiner Sicht ist der oben genannte Perspektivwechsel nur zusammen mit den werdenden Eltern möglich. Es gilt, die werdenden Eltern rechtzeitig auf die großen Themen und Prozesse einzustimmen, die in den ersten Lebensjahren auf sie und ihr Kind zukommen. Die Erfahrungen, die ihr Kind in dieser Lebensphase mit ihnen (seinen wichtigsten Bindungspersonen) macht, haben prägenden Einfluss auf das seelische Fundament, das Kinder mit ins Leben nehmen (oder eben auch nicht) – wie sichere emotionale Bindung, das Kennenlernen von Gefühlen, Selbstwertgefühl, Empathie, Umgang mit Sprache….
Das Wissen zu dieser Lebensphase ist lange bekannt. Konzepte zur Übersetzung dieses Wissens wurden erprobt, sind aber noch entwicklungsfähig (vgl. www.familienwerkstatt-verden.de & Autorenkarte im Anhang).
Mit herzlichen Grüßen – Hannsjörg Bachmann
Prof. Dr. Hannsjörg Bachmann
Achim
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