Eine Kreuzotter hat den Hund der Familie gebissen, und das ausgerechnet im Urlaub, auf einer dänischen Insel, einen Tierarzt gibt es dort nicht. Was tun? Twittern! „Kann jemand helfen?“, fragt ein aufgeregter Hundebesitzer. Menschen schicken den Tweet weiter an ihre Freunde, recherchieren und antworten dem Mann. Einige Zeit später ein großes Danke von dem Hundebesitzer an alle, die geholfen und mitgezittert haben. Und die gute Nachricht: Die Schlange hatte kein Gift abgesondert, und die Familie hat mit einem Tierarzt telefoniert, der Hund trabt wieder fröhlich über die dänische Insel. „Ich bin dankbar für Menschen, die sofort helfen. Und recherchieren. Und zurückrufen. Und die Sprache können. Menschen sind toll“, twittert der Hundebesitzer.
Das Internet ist von seiner technischen Struktur her ein soziales Medium: Menschen vernetzen sich miteinander, verbinden sich. Keine zentrale Instanz kann dieses Netz knüpfen oder alleine steuern. Anders als beim Fernsehen, wo wenige senden und viele konsumieren.
Ich mag das Netz. Und ich verstehe die Kritik nicht. Kritisiert wird: Das Internet macht dumm, einsam, aggressiv und süchtig. Die Menschen verlieren den Kontakt zur „realen Welt“, lernen ihren Stalker online kennen, gucken Pornos Tag und Nacht, spielen gewalttätige Games und erschießen dann Menschen. Seit bald 20 Jahren die gleichen Kritikpunkte, seit 20 Jahren eingefrorenes Unwissen. Ich mag sie nicht, die Antidigitalen.
Eine schwäbische Kleinstadt in den 80er Jahren: Was nicht geht: Schallplatten von den Beatles kaufen. Die führt das Musikgeschäft vor Ort nicht, der Musikladen-Besitzer bestimmt, was ich höre. Was auch nicht geht: Doc Martens tragen. Die kann man in dem Ort auch nicht kaufen, „führen wir nicht“, sagt der Schuhladen-Besitzer. Er bestimmt, worin ich gehe. „Haben wir nicht, können wir nicht bestellen, kriegen wir nicht wieder rein“: Das ist der lokale Einzelhandel mit seinen Grenzen, mit seiner Enge. Wundert es da, wenn Amazon als Befreiung empfunden wird?
Stars ohne „Bravo“-Redakteur, Heidi Klum und Manager
Das mit den Schallplatten und den Schuhen mag nicht so schlimm sein, es ist ja auch ganz charmant – ein bisschen Bullerbü, die dicken Socken von Wollfädchen, und Bürsten-Haußmann verkauft tolle Seifen. Schlimmer ist es, wenn man anders ist als die Mehrheit. Und dann kein Internet. Schwul sein auf dem Dorf. Dick sein inmitten von Dürren. Stottern und ausgelacht werden. Und der einzige Maßstab sind die Menschen um einen herum. Diejenigen, die lachen. Der schwule Junge auf dem Dorf ist heute nicht mehr angewiesen auf den reaktionären Referenzrahmen, der ihn umgeben mag. Im Internet kann er andere Schwule kennenlernen, Trost und Rat finden und die Erkenntnis: Ich bin nicht allein, und Gott findet mich prima, so wie ich bin. Das kann auch eine Chance sein für den Blick auf die Gemeinschaft, in der der junge Mann lebt: Er ist nicht eingekerkert, da er im Internet Freunde hat, die ihm helfen. Er hat auch ein anderes Leben.
Und vielleicht muss er dann nicht alle Bande zu seiner Umgebung zerschneiden, um frei zu werden. Vielleicht muss er nicht mehr in die Großstadt fliehen wie die Generationen vor ihm.
Dagi Bee schminkt sich für den Silvesterabend: Make-up, Concealer, Puder, Lidschatten glitzernd, Wimpern künstlich, Lippenstift rosa schimmernd. Dagi Bee beantwortet mit ihrem Freund zusammen Fragen – wer eher nackt durch die Stadt rennen würde, er oder sie. Und Dagi Bee erzählt, welche Probleme jedes Mädchen hat – zum Beispiel, wenn man gerade Wimperntusche aufgetragen hat und dann niesen muss. Dagi Bee ist 20 Jahre alt und blond und hat mehr als eine Million Abonnenten bei dem Videoportal Youtube. Dagi Bee ist ein Star. Um das zu werden, brauchte sie keinen „Bravo“-Redakteur, keine Heidi Klum, keinen Manager, der sie in einer Disco entdeckte und zu schmierigen Shootings schleifte. Dazu brauchte sie nur eine Videokamera, einen Internetzugang – und ganz viele Jugendliche, die ihr folgen.
Belanglos, oberflächlich, selbstdarstellerisch – züngelt da der Antidigitale und greift zum Buch. „Das Bedürfnis, gekannt zu werden, (. . .) liegt aller Literatur zugrunde“, hat die Schriftstellerin Christa Wolf einmal geschrieben. Gekannt zu werden, als der, der man ist: Druckt man die Inhalte auf Papier, dann ist es Literatur. Macht man ein Youtube-Video, dann ist es Selbstdarstellerei.
„Das Internet ist kaputt“, hat Interneterklärer Sascha Lobo am Anfang dieses Jahres in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ geschrieben. Die Hoffnungen, die er in das Netz gesetzt hatte – Demokratie, Freiheit, Emanzipation – wurden zerstört durch NSA-Überwachung und die kommerzielle Manipulation durch Google, Facebook und andere große Internetkonzerne. Da nickt der Antidigitale, der schon immer wusste, dass man sich von diesem neumodischen Kram besser fernhält.
Medienvorurteile waren noch immer falsch
Aber: Das befreiende Potenzial, das Verbindende des Netzes, das Horizonte weitet und die Nähe zu den Mitmenschen wachsen lässt, es ist nicht weg. Es besteht auch weiterhin, parallel zu staatlicher Überwachung und Algorithmen-Manipulation. Es besteht für den Hundebesitzer, der schnelle Hilfe braucht, für die Konsumentin in der Kleinstadt, für den schwulen Jungen auf dem Dorf, für die erfolgreiche Youtuberin; ganz zu schweigen von Millionen Menschen in Unrechtsstaaten, für die das Internet ein Fenster öffnen kann für Widerstand, der vorher undenkbar gewesen wäre.
Der Antidigitale – meist: Bildungsbürger – sollte aufhören, „oh weh“ zu rufen und sich das Netz von außen anzuschauen. Er sollte lieber die digitale Revolution mitgestalten – und zwar nicht mit ahnungslosem Lamento, sondern mit Detailkenntnis. Es gäbe viel zu bewegen: dass alle Daten gleich schnell im Internet übertragen werden und nicht manche Firmen sich Vorteile kaufen können. Dass alle Bürger lernen, wie man E-Mails verschlüsselt, und sich Freihandelsabkommen auch daraufhin anschauen, was sie für den Datenschutz bedeuten. Und dass Kinder schon in der Grundschule Programmiersprachen lernen. Der noch junge digitale Raum muss gestaltet werden wie andere gesellschaftliche Räume auch. Denn: Das Internet und die Digitalisierung all unserer Lebensbereiche vom digitalen Brandmelder bis zur elektronischen Gesundheitskarte – das alles wird nicht wieder weggehen.
In Liberia ziehen Mitarbeiter von Hilfsorganisationen in diesen Tagen mit Megafonen durch die Straßen der Slums, um die Menschen hinter den Türen über Ebola aufzuklären: welche Hygieneregeln sie einhalten sollten, wie sie die Ansteckung verhindern können. Tausende von Menschen sind in Liberia in diesem Jahr bereits an dem Virus gestorben, Tausende Kinder wurden zu Waisen, die niemand aufnehmen will – aus Angst vor Ansteckung. Wie viel einfacher wäre es, wenn die Menschen Smartphones besäßen und man sie über das Netz informieren könnte, wo sie auch ihre Ängste loswerden und ihre Fragen stellen könnten. Smartphones in Slums, eine Utopie? Nein. Ende 2014 werden etwa 56 Prozent der Afrikaner ein Handy besitzen. Und über das Handynetz kann auch das Internet vorankommen: Die Menschen in Afrika können ihre Mobiltelefone an der Autobatterie oder per Solarzelle aufladen und sie per Prepaidkarte auch mit Kleinstbeträgen funktionsfähig machen. Der Kampf gegen Aids, eine Alphabetisierungs-App, landwirtschaftliche Beratung per Skype – was wäre mit mobilem Internet alles möglich. Niko Wald, Referent Neue Medien bei „Brot für die Welt“, schreibt über die Chancen, die das Netz für Afrika birgt: „Es ist das Geschenk der Freiheit und Würde, das der Anschluss ans globale Dorf bringt.“
Die Erfindung der Schrift macht Menschen vergesslich, der Buchdruck macht lesesüchtig, das Fernsehen amüsiert uns zu Tode, das Internet macht dumm und einsam: Über neue Medien gab es immer Vorurteile, oft von gebildeten Menschen, und immer waren sie falsch.
sozialpolitisches Potential des Internets
Liebe Dorothea Siegle,
danke für Ihren kundigen und ermutigenden Artikel. Als crossmedial arbeitende Journalistin denke auch ich: Im Web 3.0 gibt es für engagierte Medienmacher_innen noch einiges zu gestalten. Und user_innen weltweit können von digitalen interaktiven Medienwelt noch viel profitieren. Begonnen mit den kenyanischen Farmer_innen, denen Apps wie ICow Tipps für Rinderhaltung in entlegene Gebiete beamen bis hin zu deutschen und französisichen Angehörigen, Pflegekräften und Krankenpflegeschülerinnen, die über www.squeezeme.de und www.arte.tv/demenz mehr über die emotionalen Bedürfnisse von Menschen mit Demenz erfuhren - und sich ein differenziertes Bild über Pro und Contra von Robotern in der Pflege machen konnten.
Informieren, amüsieren, berühren: Alle drei Elemente rhetorischer Überzeugungskraft zu verknüpfen, wie es im interaktiven www geschieht, erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass man ein Publikum mit seiner 'Botschaft' erreicht und zu fesseln vermag. Eigentlich spannend, denke ich da als einstige Rhetorik-Studentin von Professor Walter Jens! Was Aristoteles für die Antike Rhetorik auf dem analogen Marktplatz bereits als Erfolgsrezept formulierte, wird im 21. Jahrhundert in besonderer Weise im 'digitalen Marktplatz' des World Wide Web eingelöst: die spielerische, unterhaltsam verpackte Informationsübertragung, Wissenerweiterung, Meinungsbildung.
In diesem Sinn: Machen Sie weiter!
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Ich mag das Netz nicht!
Zugegeben, etwa 5 Prozent daran mag tatsächlich nützlich sein, der Rest aber ist Betrug und Versklavung durch die IT-Industrie. Man muss nur mit offenen Augen sich umsehen und eine gewisse Vorstellung haben von anthropologischen Idealen, um einen Begriff von dieser Versklavung zu bekommen: jeder glotzt nur noch auf irgendeinen Bildschirm oder ein Display oder hält sich ein kleines quäkendes Kästchen ans Ohr, es ist eine ausgewachsene Katastrophe! Der Lebensinhalt moderner Menschen besteht heute darin, der Entwicklung im Bereich der Informationstechnologie hinterher zu hecheln, alles andere ist zweit- oder drittrangig, und wer nicht mitmacht, der verliert und wird abgehängt.
Friedhelm Buchenhorst
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Nur Werkzeuge
“Ich mag das Netz nicht!”
Wer das sagt, erkennt nicht, dass der Rechner und das Netz nur Werkzeuge sind.
Ob man damit Sinnvolles oder Sinnloses macht, hängt alleine von der Intelligenz des Benutzers ab.
Sagen wir es mit einem einfachen Beispiel:
Wer mit dem Hammer immer nur daneben trifft oder auf den eigenen Daumen, der sagt vielleicht auch “ich mag den Hammer nicht”.
Dietwald Schulz, Filderstadt
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Macht das Interne
Das Internet hat natürlich Vorteile, aber ich freue mich über Menschen, die sich vom Zeitgeist nicht verführen, die sich nicht korrumpieren lassen. Kinder und Jugend wachsen ja in diese Welt hinein, und die berufliche Nutzung ist unbestritten, es ist nützlich, keine Frage, aber die Nachteile sind groß, nicht zu vergleichen mit dem Telefon, oder dem Buch. Der Text überrascht mich. Ich habe mich wohl in der Wahl der Zeitschrift vergriffen. Ich mag es nicht, wenn der Journalismus so unumwunden tendenziös wird, und so persönlich. Und was ist von einer Kirche zu halten, die so bar jeglicher Vernunft ist ?
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