Electra Bikes
Warum das Fahrrad bis heute unbequem und gefährlich ist
Aufs falsche Rad gesetzt
Der Technikhistoriker Hans-Erhard Lessing erklärt, warum das Rennrad seit fast 100 Jahren unser Bild vom Radfahren prägt - und wie es besser sein könnte
Tim Wegner
26.06.2023
12Min

Der Blog "Klimazone" erscheint heute als Interview mit dem Technikhistoriker Hans-Erhard Lessing und Sie sollten ihn lesen, wenn

  • Sie sich fragen, warum viele Menschen nicht mit dem Fahrrad fahren und
  • was helfen könnte, damit mehr Menschen sicherer auf dem Rad unterwegs sind.

Ein Fünftel der Treibhausgasemissionen in Deutschland gehen auf den Verkehrssektor zurück. Das Bundes-Klimaschutzgesetz sieht vor: Bis 2030, also in sieben Jahren, müssen die Emissionen um die Hälfte sinken. Bis 2045 soll der Verkehr klimaneutral rollen. Stattdessen steigen die Emissionen sogar noch an. Klar ist: Ohne das Fahrrad wird es keine Verkehrswende geben. Doch der Physiker, Technikhistoriker und Fahrradspezialist Hans-Erhard Lessing aus Schwäbisch Gmünd sagt: Wir setzen seit fast hundert Jahren aufs falsche Rad.

privat

Hans-Erhard Lessing

Hans-Erhard Lessing, Jahrgang 1938, ist Physiker, Technikhistoriker, Fahrradspezialist und Buchautor

Herr Lessing, Sie argumentieren, bereits im Jahr 1934 – vier Jahre vor Ihrer Geburt – sei die Fahrradwelt falsch abgebogen. Was ist damals passiert?

Hans-Erhard Lessing: Es gab damals in Frankreich Freizeitmobile mit vier Rädern; Tretmobile, die man mancherorts heute noch an französischen Stränden mieten kann. Der Erfinder dieser Mobile, Charles Mochet, hatte noch eine weitere Idee: Er entwickelte ein gemütliches, bequemes Zweirad, legte den Fahrersitz tiefer, sodass der Fahrer die Füße immer und umstandslos auf dem Boden absetzen konnte, wenn er stoppte. Und: Er gab den Fahrern eine Rückenlehne, das war bequem und man konnte mit mehr Kraft nach vorn treten.

Klingt einleuchtend!

Ja, aber Mochet hatte den Ehrgeiz, sich mit diesem Liegerad - er nannte es „Velo-Velocar“ - auf der Rennbahn zu beweisen. Das war 1934. Und siehe da: Ein relativ unbekannter Rennradfahrer fuhr dem Rest davon. Das schreckte die Dachorganisation des Radsports auf, die Union Cycliste Internationale.

Warum?

Man wollte vergleichbare Räder haben, damit auch die Leistung der Fahrer verglichen werden konnte. Also sagten die Vertreter der Union Cycliste Internationale: "Sofort verbieten! Wir wollen das alte Rennrad weiter benutzen!" Und so entstand eine Festlegung: Der Rahmen musste eine bestimmte Form – Diamantrahmen genannt – haben, die Pedale mussten immer unter dem Sattel liegen und nicht weiter vorn. Charles Mochet war wieder ausgeschlossen aus der Gemeinschaft, die ganze Radwelt fand sich mit dem Rennrad ab. Aus der Form des Rennrades mit seinem Diamantrahmen hat sich das Sportnormrad entwickelt, das heute den Markt dominiert.

Aber das Liegerad von Monsieur Mochet hätte sich doch trotzdem durchsetzen können! Und manchmal, wenn auch selten, sieht man sie heute ja auch auf den Straßen.

Die Fahrradbranche rekrutiert sich aus Rennradfahrern, viele sind oder werden auch Fahrradhändler. Es ist unübersehbar, dass die ganze Branche nur fürs Rennrad und dessen Kundschaft brennt. Also für junge Männer, die mit Hochgeschwindigkeit durch die Gegend brettern. Oder für die kaufkräftigen Herren mittleren Alters, die im Rennraddress die Rennsituation imitieren. Ja, in achtziger Jahren entstand eine Liegeradbewegung, aber leider trieben die jungen Ingenieure damals die Entwicklung auf die Spitze und kreierten diese unglückliche "Käfer auf dem Rücken"-Position, die dem normalen Stadtbürger nicht zuzumuten ist. Man kommt damit auch schwer in Gang, habe ich festgestellt. Es ist ein Jammer.

Warum?

Weil sich die junge modebewusste Frau, die eigentlich gern vom Auto aufs Rad umsteigen möchte, bestimmt nicht in so ein "Käfer auf dem Rücken"-Rad legen wird. Und sie wird auch auf kein Rad steigen, das widerborstig ist, die Garderobe ruiniert und unsicher erscheint. Leider ist dieses Unsicherheitsgefühl auch berechtigt.

Das Fahrrad. Eine Kulturgeschichte des Glücks auf zwei Rädern und einer genialen Technik, 6. neu bebilderte Druckaufl., 2022, 256 Seiten, Gebunden. Leinenband, mit Abbildungen

Welche Situationen haben Sie vor Augen, was macht unsere Fahrräder gefährlich?

Das Drama besteht schlicht und ergreifend darin, dass die Fahrerin nicht richtig mit den Füßen auf den Boden kommt, wenn sie anhält. Bei jedem Motorrad ist das besser gelöst. Aber bei Rädern, bei denen der Sattel direkt hoch über den Pedalen montiert ist, geht es nicht. Man muss regelrecht abspringen, um zum Stehen zu kommen. Ich beobachte oft Frauen, die mit beiden Füßen abspringen, um Halt zu finden. Gern schlagen die Pedale dabei auch schmerzhaft am Schienbein zu. Wer tut sich das an? All jene, die diese Zumutungen ertragen, fahren schon Rad...

...das sind eine ganze Menge...

...aber wenn die Stadtplaner hoffen, dass allein mit neuen Radwegen die ganze Stadt aufs Rad hüpft, sage ich: Das wird nicht passieren, wenn wir an dieser unglücklichen Fahrradergonomie festhalten. Das ist geradezu Sabotage am Goodwill der Stadtplanung. Neuzusteiger sind nicht drin, wenn man sich vor der Fahrt erst radgerecht verkleiden muss, damit die Hose nicht in die Kette kommt. Die wird meist ja auch nicht mal mehr richtig verkapselt. Und wie gesagt: Die Unsicherheit ist groß, bei der kleinsten Unaufmerksamkeit kippt man aus dem Stand um. Selbst US-Präsident Biden ist davor nicht geschützt, wie wir neulich sehen mussten.

Gibt es Zahlen, wie oft das passiert – dass jemand einfach umkippt und sich verletzt?

Leider nicht, die so genannten Alleinunfalle, die ohne das Zutun anderer Verkehrsteilnehmer passieren, werden statistisch nicht erfasst. Man schätzt, dass es ein Drittel bis zur Hälfte aller Radunfälle sind. Auch sie können tödlich enden, wenn man unglücklich stürzt - selbst mit Fahrradhelm kann man sich leider das Genick brechen. Meine Güte, man muss doch ein Verkehrsmittel so gestalten, dass die Sicherheit gewährleistet ist! Man muss Fahrräder so bauen, dass die Pedalkurbeln beim Absteigen nicht im Weg sind und uns ans Schienbein schlagen. Überhaupt, das Abspringen! Viel von der Rücksichtslosigkeit der Radfahrer rührt daher, dass sie nicht anhalten wollen, weil sie dann absteigen müssten. Also quetschen sie sich mit viel Risiko noch überall durch, was die anderen Verkehrsteilnehmer erzürnt. In Holland erhöht man vor Ampeln die Bordsteine, damit sich Radfahrer bei Rot mit dem rechten Fuß abstützen können. Aber bevor man nun überall die Randsteine hochsetzt, sollte man lieber anfangen, Räder anders zu bauen – nämlich als Verkehrsrad, wie ich den Abkömmling des „Velo-Velocar“ nenne.

Wäre eine super Geschäftsidee! Warum macht das niemand?

Wie gesagt: Der Handel ist aufs Rennrad programmiert - und auf die entsprechenden Zielgruppen, meistens Männer.

Aber wenn der Handel merkt, dass da eine Zielgruppe schlummert, die noch kein gutes Angebot erhalten hat? Die Hälfte der Bevölkerung besteht aus Frauen!

Das wird nur mit Hilfe von Politik und Staat klappen, fürchte ich. Und mit Hilfe der Versicherungswirtschaft, denen Alleinunfälle mit dem Rad viel Geld kosten. Das Übel, dass man mit den Füßen nicht auf den Boden kommt, haben die amerikanischen Beachcruiser behoben - immerhin! Hier in Deutschland werden sie von der Firma Electra vertrieben.

Dann wird nun alles gut?

Die machen das nicht aggressiv genug. Ich vermute, weil die Firma das Rennklientel nicht verprellen will. Die nennen das Flat Foot-Technology. Damit ist ein großer Unsicherheitsfaktor weg. Aber mittlerweile gibt es nur noch ein Modell ohne Elektromotor. In den USA gibt es einen weiteren Anbieter, und die sind wohl sehr erfolgreich – immerhin! Er scheint mir auch günstiger zu sein.

Wäre man langsamer mit einem Rad, wie Sie es sich wünschen?

Es kann sein, aber diesen Handel würde ich zugunsten der Sicherheit immer eingehen. Wenn noch eine Lehne dabei wäre, hätte man auch mehr Kraft, die man auf die Pedale bringen kann. Es geht aber nicht ums Rennen, es geht um Sicherheit, Gemütlichkeit und darum, dass man auch gutgekleidet vom Rad kommt. Man muss sich ja auch nicht verkleiden, wenn man ins Auto oder in den öffentlichen Nahverkehr steigt – fürs Radfahren aber schon. Ich verstehe die Radbranche nicht, die sich immer auf die Ausrede berufen hat, das Fahrrad sei ausentwickelt. Das glaubt doch kein Mensch mehr. Die Lastenräder sind doch auch dazugekommen - weil sie hohe Umsätze versprechen.

Sie kämpfen seit Jahrzehnten für Ihre Idee, bis ins hohe Alter, Sie sind 85 Jahre alt. Warum tun Sie sich das an?

Das fragt sich meine Frau auch (lacht). Weil die Branche auch trotz besseren Wissens weitermacht. Die aufrechte Sitzhaltung ist besser. Das hat mich immer aufgeregt. Im Alter lege ich meine Zurückhaltung ab. Es ist auch ein Frauen- und Kinderthema, das nach vorne geboxt werden muss, damit alle sicherer unterwegs sein können.

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Nach einem "einfachen" Sturz mit anschließender Arm-OP wollte ich wieder mit dem Rad fahren, stellte aber fest, dass mir der Mut dazu dauerhaft abhanden gekommen war. Ich wollte aber unbedingt wieder radfahren, auch auf dem Land hat das besonders im Sommer große Vorteile. Nach langer Suche und etlichen Selbst-Versuchen fand ich zwei Vehikel, die ich uneingeschränkt empfehlen kann:
→ Ein sogenanntes "Tiefeinsteiger-Rad", ein Zweirad mit veränderter Geometrie, so dass man beim Anhalten sofort die Füße auf den Boden bringt. Die gibt es inzwischen von verschiedenen Firmen.
→ Ein "Sessel-Dreirad": Man sitzt realtiv weit unten und bringt die Füße im Sitzen auf den Boden. Die Angst vor dem Umfallen, mit einem "normalen" hohen Dreirad noch deutlich spürbar, habe ich damit endgültig überwunden. Auch diese Sessel-Dreiräder gibt es von verschiedenen Firmen.
Mit meinem fahre ich seit inzwischen fünf Jahren viel und gerne!

Kolumne

Nils Husman

"Wir müssen die Schöpfung bewahren!“ Da sind wir uns alle einig. Doch was heißt das konkret? Nils Husmann findet, wer die Schöpfung bewahren will, sollte wissen, was eine Kilowattstunde ist oder wie wir Strom aus Sonne und Wind speichern können – um nur zwei Beispiele zu nennen. Darüber schreibt er - und über Menschen und Ideen, die Hoffnung machen. Auch, aber nicht nur aus Kirchenkreisen.