Auf der Landstraße
Landstraße nach Hause
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"Ohne geht es nicht auf dem Land"
Busse und Bahnen fahren selten, Krankenhäuser machen dicht, und wir sollen flexibel sein. Mit dem klimafreundlichen Fahrrad kommt man da nicht weit, schreibt unsere Leserin Suse Günther.
Privat
27.10.2022

Ich bin evangelische Pfarrerin und systemische Therapeutin und arbeite unter anderem in der Notfallseelsorge. Ich begleite Menschen, denen jemand oder etwas ganz plötzlich wegbricht. Von jetzt auf gleich ist ein Leben auf den Kopf gestellt. Ein Mensch ist nicht mehr da, der unser wichtiger Bezugspunkt war. Ein Haus ist nicht mehr da (etwa im Ahrtal), das ein Zuhause war. Unsere Vergangenheit, wie wir sie uns erzählt haben, ist weg. Unsere Zukunft, wie wir sie uns erhofft haben, ebenfalls. Es bleibt der ganz schmale Grat der Gegenwart, die unter völlig unbekannten Prämissen irgendwie Schritt für Schritt gegangen werden muss.

Jemand, etwas fehlt. Ich erlebe, dass sich eine solche Lücke nie wieder schließt. Wir lernen, mit der Lücke zu leben, bleiben aber durch diesen Verlust geprägt.

Vor sechs Jahren schloss das Krankenhaus, in dem ich damals arbeitete. Wir Mitarbeitenden haben um das Haus, das für seine qualitativ hochwertige Arbeit und gute Pflege bekannt war, gekämpft. Viele haben auf Lohn verzichtet. Wir haben Überstunden geleistet, Demonstrationen organisiert, den Kontakt zu Politik, Krankenhausträgerverein und Presse gesucht. Die Arbeit musste trotzdem getan werden. Die Gründe haben sich uns nicht erschlossen.

Uns Mitarbeitende von damals verbindet bis heute dieses Erleben: Wir sind die, die dort gearbeitet haben. Die gekämpft haben, die verloren haben und die im Stich gelassen wurden. Und nicht nur uns verbindet diese Lücke. Auch die Patienten und Patientinnen, die behandelt wurden, vermissen das Haus bis heute. Wenn ich sie in der weiter entfernten Einrichtung wiedertreffe, in der ich jetzt arbeite, begegnet mir sofort der Satz: "Ich kenne Sie doch von damals . . . wie schwer, dass es das Krankenhaus nicht mehr gibt." Jetzt werden hier in meiner Region wieder drei Krankenhäuser geschlossen, in Dudweiler, das Evangelische Krankenhaus Saarbrücken mit Hospiz und Palliativversorgung und in Rodalben.

Privat

Suse Günther

Suse Günther, Jahrgang 1963, ist Pfarrerin, Notfallseelsorgerin und systemische Therapeutin (SGsT). Sie arbeitet im Kreiskrankenhaus St. Ingbert als Krankenhausseelsorgerin und im Dekanat Zweibrücken, hier u. a. als Notfallseelsorgerin.

Wir leben in einer Zeit, die uns allen abverlangt, uns ständig an neue Gegebenheiten anzupassen. Das Schlagwort "Flexibilität" ist ebenso ausgereizt wie das der "Mobilität". Gerade ist Letzteres wieder in aller Munde. Neulich gab es eine "Woche der Mobilität", sie wurde bundesweit ausgerufen.

Der Wunsch ist: mobil zu sein und dabei aufs Auto zu verzichten. Ja, so hatte ich, Jahrgang 1963, mir das auch einmal gedacht. Auch in den Achtzigerjahren waren sich junge Menschen durchaus der Dringlichkeit bewusst, den CO2-Ausstoß zu verringern und selbst an der eigenen Gesundheit und der des Planeten aktiv mitzuarbeiten, Verantwortung zu übernehmen.

Bahnstrecken wurden geschlossen

Ich erlebe aber seit dieser Zeit eine seltsame Doppelbotschaft: Auf der einen Seite vergeht keine öffentliche Verlautbarung, in der nicht auf diese Dringlichkeit hingewiesen wird. Auf der anderen Seite wird Schritt für Schritt eine Infrastruktur zerstört, die einen verantwortlichen Umgang mit den Ressourcen ermöglicht hätte.

Früher konnte ich mit dem Rad zur Arbeit Rad fahren. Das ist jetzt unmöglich, die Strecke ist einfach zu weit. Wir haben inzwischen sogar zwei Autos, weil es gar nicht anders geht auf dem Land. Bahnstrecken werden geschlossen und durch Busse ersetzt. Arztpraxen können nicht mehr besetzt werden, wodurch weite Fahrten in die nächste Stadt nötig werden. Kinder werden zu weit entfernten Grundschulen gekarrt und dann wieder am Nachmittag zu Freunden, die ja nun auch vier Dörfer weiter wohnen.

Diese Entwicklung betrifft alle Bereiche, nicht einmal die Kirche können wir, wie es das alte Sprichwort behauptet, im Dorf lassen. Wenn ich als Pfarrerin früher ein Gebiet von drei bis vier Dörfern zu betreuen hatte, was sich mit dem Rad bewältigen ließ, so sind es heute locker doppelt so viele. Kirchen und Gemeindehäuser, ganze Kirchengemeinden werden ebenso geschlossen wie Sportplätze, damit fallen wichtige Anlaufstellen weg in allen sozialen Bereichen: Treffpunkte für alle Altersgruppen.

Unter solchen Vorgaben erscheint mir eine "Woche der Mobilität" nicht nur lächerlich, sondern geradezu zynisch. Denn wieder einmal wird ein Problem nicht angegangen, sondern nach "unten" weitergegeben. Welcher alte Mensch kann seinen Partner, seine Partnerin, die in einem weit entfernten Krankenhaus behandelt werden, überhaupt noch besuchen, wenn nicht Kinder oder Nachbarn nach einem langen Arbeitstag und belastender Fahrtstrecke sich noch einmal ins Auto setzen und Taxidienste übernehmen?

Unser Leben ist aufs Auto ausgerichtet

Alles in unseren Leben ist darauf ausgerichtet, mit dem Auto bewältigt zu werden. Zerstückelt, zerstreut, zerfahren zu werden. Das ist gar nicht anders gewollt. Hier im saarpfälzischen Raum streiten sich Saarland und Rheinland-Pfalz seit Jahrzehnten darum, wer die Kosten übernehmen soll, um eine völlig intakte Bahnstrecke wieder in Betrieb zu nehmen. Stattdessen werden lieber Busse auf die heillos überfüllten Straßen geschickt. Krankenwagen jagen hin und her auf den Autobahnen, um einen Platz in den immer seltener werdenden Krankenhäusern zu ergattern.

Wir haben gelernt, damit zu leben. Daran gewöhnt haben wir uns nicht. Wir empfinden es jeden Tag neu als Lücke, als etwas, das uns fehlt: Die Geborgenheit, die Sicherheit, das, wofür ich den zerbrechlichen Begriff "Heimat" gebrauchen möchte.

Flexibilität und Mobilität? Ich erwarte sie von denen, die uns am grünen Tisch alle diese Veränderungen zugemutet haben. Sie sind eingeladen, sich ein Bild vor Ort zu machen und Ideen umzusetzen. Neue Ideen zu entwickeln zusammen mit den Menschen. Und sehr gerne auch mit dem Rad.

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