Keuchen, schwitzen, fluchen, hoffen. Auf das Ende der Tortur, auf die Ziellinie des Berlin-Marathons 2023. Meine Oberschenkel glühen, die Füße sind taub vor Schmerz, meine Lunge steht in Flammen, ich will nur noch, dass es aufhört. Zwei Kilometer noch. Ein Blick auf die Uhr, meine Zeit ist nichts Besonderes, fast 25 000 andere sind heute schneller als ich. Damit bin ich unterer Durchschnitt, und dennoch jubeln mir von jenseits der Absperrungen Hunderte zu, als wäre ich ein Rockstar, sogar Polizisten rufen: "Du schaffst es, Hilmar!"
Ich aber bin am Ende. Warum tue ich mir diese Quälerei an, und wofür der Applaus? Was hält diesen bizarren Kult am Laufen?
"Schon in der Antike sind die Olympischen Spiele aus den Kultfesten zu Ehren diverser Gottheiten hervorgegangen", erklärt mir Gerd Steins, Berlins vielleicht berühmtester Sporthistoriker. Der Mittsiebziger genießt das Spektakel des Stadtlaufs, besonders kostümierte Läufer haben es ihm angetan, die als Obelix, Spiderman, Dinosaurier oder Schlumpf laufen, ein Mix aus Karneval und Prozession. Als Zuschauer bevorzugt er die letzten, härtesten Kilometer des Rennens, in den Gesichtern das Ringen aus Freud und Leid. Wobei er auch schon bizarre Szenen erlebt hat: Einmal rannte ein Läufer vorbei, sich mit einer Peitsche geißelnd, "der hatte wohl Sport und Kreuzweg verwechselt".
Der Stadtlauf als Prozession? Diese Lesart war durchaus gewollt vom französischen Pädagogen Pierre de Coubertin, dem Erfinder der neuzeitlichen Olympischen Spiele, mit dem Marathonlauf als Höhepunkt: "Für mich bedeutet Sport eine Religion mit Kirche, Dogmen, Kultus . . ., aber besonders mit einem religiösen Gefühl." Dieser Unterton schwingt noch heute mit, auch beim US-amerikanischen Ultramarathonläufer Constantine "Dean" Carnazes: "Beim Marathon geht es nicht ums Laufen, sondern um Erlösung."
Der Marathon - ein Supermarkt des Glaubens?
Sport als Religionsersatz? Das wäre stimmig, da Berlin als schnellster und größter Marathon der Welt gilt, mit über 50 000 Teilnehmenden und 13 Weltrekorden. Und gleichzeitig als Hochburg des Unglaubens: Drei Viertel gehören hier keiner Glaubensgemeinschaft an. "Formwandel der Religion" wird dieser Effekt genannt, eindrücklich beschrieben vom österreichisch-amerikanischen Glaubenssoziologen Thomas Luckmann in seinem Buch "Die unsichtbare Religion".
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