Schriftstellerin Gabriele von Arnim
"Ich dödel auch mal durch den Tag"
Ihr Elternhaus war kühl, ihr Leben diszipliniert. Später pflegte sie zehn Jahre lang ihren kranken Mann. Heute ist Gabriele von Arnim gnädiger mit sich selbst
Gabriele von Arnim
Dirk von Nayhauß
Dirk von Nayhauß
03.08.2025
3Min

chrismon: In welchen Momenten fühlen Sie sich lebendig?

Gabriele von Arnim: Ganz stark, wenn ich in einem See oder vor allem im Meer schwimme. Durch eine Kinderkrankheit bin ich leicht behindert, bestimmte Bewegungen kann ich nicht ­machen, ich habe mehrere Hüftoperationen hinter mir. Beim Schwimmen fühle ich mich viel leichter als beim Laufen, und wenn ich auf dem Rücken liege, in die ­Wolkengebilde gucke und mir Märchen ausdenke, die zu den Wolken ­passen – herrlich, das ist so ein befreites Gefühl, dann bin ich weg von der Welt, von irgendwelchen Anforderungen.

Gabriele von Arnim

Gabriele von Arnim, geboren 1946, ist Journalistin, Moderatorin und Autorin. In ihrem Buch "Das Leben ist ein vorübergehender Zustand" (Rowohlt, Taschenbuch, 14 Euro) beschreibt von Arnim die zehn Jahre, die sie ihren Mann Martin Schulze nach zwei Schlaganfällen zu Hause pflegte. Zuletzt erschienen von ihr "Der Trost der Schönheit" (Rowohlt, 22 Euro) und "Liebe Enkel oder Die Kunst der Zuversicht" (Kjona, 18 Euro). Gabriele von Arnim hat eine Tochter und lebt in Berlin.

Was können Erwachsene von Kindern lernen?

Je älter ich werde, desto großartiger finde ich Kinder. Die tun einfach das, wonach ihnen gerade zumute ist – wütend schreiend durch die Gegend laufen, das würde ich auch gern mal wieder machen. Ich bin in einer gefühlskalten Familie aufgewachsen. Als ich neun Jahre alt war, ist mir die Hüft­kugel aus der Schale gerutscht, ich habe fast anderthalb Jahre im Bett gelegen, war zwei Jahre nicht in der Schule. Äußerlich haben mich meine Eltern enorm unterstützt, mit allen Ärzten, die man brauchte. Innerlich waren sie hanseatisch unterkühlt. Umarmungen gab es nicht. Bloß nichts fühlen war das Diktum unserer Familie, das wurde nicht ausgesprochen, aber es wurde gelebt. Klar, ich habe gelernt durchzuhalten, aber der Preis war hoch, ich musste meine Gefühle in eine Eisbox packen und einfrieren.

Haben Sie eine Vorstellung von Gott?

Ich wäre gern gläubig. Ich habe einmal gehört, wie ein Mann sagte: Ich gebe meine Angst bei Gott ab. Beneidenswert, wenn man das kann. Ich muss meine Kraft aus mir selbst holen, meinen Trost. Und aus Menschen, Büchern, dem Wald, einem Blumengarten, meiner Wohnung, die mein absoluter Schutzort ist. Geborgenheit spielt eine große Rolle, wenn man so ungeborgen aufgewachsen ist.

Welche Liebe macht Sie glücklich?

Die Zuneigung von nahen Menschen brauche ich sehr. Ich bin nähe- und redebedürftig. Ich lebe ja seit dem Tod meines Mannes allein. In seinen letzten zehn Jahren war er schwer krank. Er saß im Rollstuhl, konnte nur noch undeutlich sprechen, nicht mehr lesen, das Schlucken musste er mühsam lernen. Wir hatten genug Geld, dass er zu ­Hause bleiben konnte, welch ein Privileg, aber auch mit der Hilfe von Pflegern waren es zehn Jahre in bedrängenden, angstgeplagten Umständen. Und es war für mich schwierig zu akzeptieren, dass ein Kranker seinen Weg geht, dass die eigene Fürsorge in Übergriffigkeit übergehen kann, dass er bestimmte Therapien nicht wollte oder Pfleger ablehnte. Wenn ich sagte: "Ich brauche Hilfe", sagte er: "Ich nicht." Es waren harte Auseinandersetzungen. Eine komplexe Situation auch dadurch, dass ich ihm am Tag vor dem ersten Schlaganfall gesagt hatte, ich könne nicht mehr leben mit ihm. Aber jetzt entwickelte sich viel Mitgefühl, auch eine Zärtlichkeit. Ohne Liebe kann man nicht zehn Jahre jemanden pflegen, mit einem durchgetakteten Tag, der sich immer um diese Krankheit dreht.

Fürchten Sie den Tod?

Manchmal ja und manchmal nein. Ich habe meinen Mann sterben sehen. Angst gemacht hat mir das nicht, aber es war ein langer Weg, er musste so viel ertragen. Ich hoffe, dass ich diesen Weg nicht gehen muss. Und ich würde ungern mit meinen Nächsten ungeklärte Misshelligkeiten haben – und dann sterben, das fände ich schrecklich. Dass jemand nach meinem Tod denkt: Vielleicht hätte ich ihr das noch sagen sollen . . . Sagt es mir bitte jetzt, auch Kritik! Damit ich Bescheid weiß, damit wir versuchen können, etwas zu ändern.

Welchen Traum möchten Sie sich noch erfüllen?

Ich weiß nicht, ob das ein Traum ist, aber es ist ein Wunsch, die letzten Jahre sehr bewusst zu leben, in möglichst viel Heiterkeit. Ich liebe dieses Wort, weil Heiterkeit auch die Melancholie in sich hat.

Wie wäre ein Leben ohne Disziplin?

Als ich aufgewachsen bin, war Disziplin die Hauptsache von allem. Aber ich bin nicht mehr so rigide, ich lasse mir mehr durchgehen, ich dödel auch mal durch den Tag. Oder sitze am See und schaue einfach nur, habe nicht die ­Zeitung dabei, die ich unbedingt noch lesen muss. Das steht jetzt an: gnädiger mit mir selbst zu werden.

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