Martin Kohlstedt tritt auf die Bühne, es ist kurz nach acht, gleich wird die Sonne untergehen. Er setzt sich auf einen Klavierhocker und dreht dem Publikum den Rücken zu. Er blickt auf ein rotes Fender-Rhodes-Piano und verschiedene Synthesizer. "Die Leute sollen sich nicht auf mich konzentrieren", wird er später sagen, "sie sollen sich für die Musik öffnen."
Normalerweise füllt Kohlstedt den Großen Saal der Elbphilharmonie mit 2100 Plätzen, er spielt auch seit Jahren auf der Fusion, einem der größten Elektro-Festivals in Deutschland. In der Moskauer Staatsbibliothek wurde 2016 eigens ein Flügel auf einem Podest installiert, damit der Klang seiner Musik sich von hoch oben über die Zuhörenden ergießen konnte.
Heute spielt er auf dem Skandaløs, einem kleinen Festival auf einem norddeutschen Acker, nur ein paar Kilometer von der dänischen Grenze entfernt. Es ist ein Hochsommerabend im August 2024, doch der Wind bläst kalt durch die Gräser; wenige Kilometer weiter verschmelzen die tief hängenden Wolken mit der dunkelgrauen Nordsee.
Auf der Bühne spielt Kohlstedt nun immer wieder das A. Erst leise, dann lauter, das C dazu, er wird schneller. Es klingt, als säe er einen Samen, aus dem ein Sprössling keimt, gen Himmel wächst, zu einem Stamm wird. Er hält einen tiefen Ton, als verwurzelte er ihn in der Erde. Dann wird er leiser. Seine Tonfolgen glitzern wie Blätter im Sonnenlicht.
Kohlstedt legt seinen Kopf in den Nacken, reißt den Mund auf, schüttelt die Hände
Vor der Bühne beginnen die Menschen zu tanzen, ihre Gummistiefel stampfen rhythmisch auf der schlammigen Erde. Ein junger Mann in schwarzer Weste kreist die Schultern, erst die linke, dann die rechte, nimmt seine Handgelenke dazu. Er schließt seine Augen, lässt die Bässe durch seinen Körper fahren. Es klingt, als stünde plötzlich ein ganzes Orchester mit Kohlstedt auf der Bühne. Der legt seinen Kopf in den Nacken, reißt den Mund auf, schüttelt die Hände, als hätte er sich gerade an einer heißen Herdplatte verbrannt. Er bückt sich tief übers Pult, den Rücken so krumm, wie wenn er durch seine Wälder streift.
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