Zuversicht
Die Weltuntergangsmaschine ausschalten
Wem nützt es, wenn wir nicht mehr an das Gute glauben? Unser Autor hat sich vorgenommen, nicht immer sofort mit einzustimmen, wenn wieder wer klagt, dass die Welt aus den Fugen gerät
Viele post it-Zettel an eine Wand geklebt. Darauf Smilys die traurig schauen. Nur ein Smily lächelt.
Gerade in schwierigen Zeiten ist es sinnvoll, die guten Nachrichten zu sehen
Uma Shankar sharma / Getty Images
Tim Wegner
08.01.2025
4Min

Das Jahr war erst wenige Tage alt, als mich der Frust kurz wieder einholte. Beim Sport raunte ein Mitläufer, die Jugendlichen in Deutschland würden immer dümmer, er sehe das immer wieder bei der Arbeit. Meinen Einwand, dass hier die Corona-Zeit nachwirken könnte, wollte er nicht hören. Seine Haltung stand fest: Mit Deutschland geht es bergab. Wenig später legte ein Nachbar nach: Die "Deindustrialisierung" koste hierzulande monatlich 10.000 Jobs.

Viele Menschen, so scheint es, verlieren die Hoffnung auf bessere Zeiten. Und tatsächlich sind Nachrichten im neuen Jahr genauso schwer zu ertragen wie 2024: Trump, Musk, Zuckerberg, AfD, FPÖ, Ukraine, Nahost, Wirtschaftskrise, Inflation, antisemitische und rassistische Übergriffe… Diese Schlagworte müssen reichen, denn hier soll es nicht um die schlechten Nachrichten gehen. Ich habe mir vorgenommen, die Erzählung von der Welt, die angeblich aus den Fugen gerät, nicht ständig zu wiederholen. Das ist mein Vorsatz fürs neue Jahr und mindestens genauso schwer, wie auf Süßigkeiten und Alkohol zu verzichten.

Wenn jemand das Gefühl hat, dass der Boden unter uns schwankt - ich nehme es niemandem übel. Ich empfinde auch so. Ich will auch die Probleme nicht kleinreden oder die Welt in rosaroten Farben malen. Die Herausforderungen sind enorm. Aber wer hat etwas davon, wenn wir nicht mehr an das Gute glauben?

Soziale Netzwerke wie X verstärken Häme, Hass und Verunsicherung, das ist bekannt. "TikTok ist auf kurze Inhalte mit Knalleffekten optimiert, die für ein paar Sekunden Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Solche provokanten, emotionalisierten Inhalte belohnt das System und spielt sie häufig aus", sagt Philipp Lorenz-Spreen vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung. Je mehr Userinnen und User diese Netzwerke nutzen, desto mehr haben den Eindruck: Deutschland, der Westen, die Welt – alles versinkt im Chaos und niemand tut etwas dagegen.

Machen Sie mit!

Ein nettes Wort, ein sonniger Tag, eine schöne Begegnung: Was gibt Ihnen Zuversicht? Wo ist Ihr persönlicher Hoffnungsschimmer? Und wie ermutigen Sie andere – oder sich selbst? Das würden wir gern von Ihnen wissen. Schreiben Sie uns! Eine Auswahl Ihrer Texte veröffentlichen wir auf unserer Website chrismon.de. Wir freuen uns über Post an chefredaktion@chrismon.de.

Cui bono, wem nützt dieses Gefühl? All jenen, die raunen, ein starker Führer müsse durchgreifen und aufräumen. Die Zustimmungsraten für die AfD vor der Bundestagswahl sind ein Indiz, dass das auch in Deutschland viele Menschen glauben. Sie trauen Politikern und Politikerinnen demokratischer Parteien offenbar nicht zu, kluge Entscheidungen zu treffen. Dazu ein Beispiel: Der Aussage "Was Deutschland jetzt braucht, ist eine einzige starke Partei, die die Volksgemeinschaft insgesamt verkörpert" stimmten jüngst in der Leipziger Autoritarismus-Studie 4,5 Prozent der Befragten explizit zu, weitere 13,1 Prozent bejahten den Satz überwiegend. 21,4 Prozent gaben an, diesem Satz "teils, teils" zuzustimmen. Eine einzige starke Partei, die die Volksgemeinschaft verkörpert – und fast 40 Prozent können damit etwas anfangen? Da müssen gerade in Deutschland alle Alarmglocken schrillen. Diese Zahlen sind auch das Werk von Menschen wie Elon Musk, die mit der Wut Geld verdienen und sich zum Erlöser aufschwingen.

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Wie soll man dieser Entwicklung mit Zuversicht begegnen? Die Politik ist aufgefordert, Führungsstärke zu zeigen. Und das eben nicht mit harter, autoritärer Hand, sondern im Sinne von Wahrhaftigkeit und Aufrichtigkeit. Konkret heißt das: Demokratinnen und Demokraten dürfen Menschen nicht wider besseres Wissen verführen, weil sie sich aus der Wut einen Vorteil und Stimmen erhoffen. Warum fordert Friedrich Merz, der Kanzlerkandidat der Unionsparteien, man solle prüfen, straffällig gewordenen Menschen mit doppelter Staatsangehörigkeit den deutschen Pass zu entziehen?

Er bedient damit eine Stimmung, die in Zuwanderung pauschal eine Gefahr sieht. Offenbar nimmt er an, damit Mehrheiten gewinnen zu können. Das ist nicht nur gefährlich, sondern in der Sache falsch. Über ein Viertel der Menschen in Deutschland hat eine Migrationsgeschichte. Mal abgesehen davon, wie es ihnen mit so einer Forderung geht: Wären all diese Menschen pauschal gefährlich und kriminell, müssten wir in Mord und Totschlag versinken. Dabei war die Gesellschaft früher krimineller. Bundeskanzler Olaf Scholz blies vor einem Jahr mit seiner Forderung, man müsse endlich "im großen Stil" abschieben, ins selbe Horn. Das ist Populismus. Stattdessen wäre bessere Politik gefragt, die konkrete Probleme löst. Etwa den Mangel an bezahlbarem Wohnraum.

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Und was können wir selbst tun, statt nur auf bessere Zeiten zu hoffen? Wir können uns zumindest gute Nachrichten erzählen von positiven Entwicklungen. Ja, die gibt es! Zum Beispiel: Im Vergleich zu 1990 sind die Treibhausgasemissionen in Deutschland um 48 Prozent zurückgegangen, obwohl die Wirtschaft in den meisten Jahren seit der Wiedervereinigung wuchs. Auch 2024 wurden in Deutschland weniger Treibhausgase ausgestoßen, weil der Ausbau der erneuerbaren Energien dazu geführt hat, dass weniger Kohle für die Stromgewinnung verbrannt wurde. Wir arbeiten an der Lösung eines Menschheitsproblems, der Klimakrise – und wir kommen voran!

Mein persönliches Gegengift gegen Weltuntergangsängste sind schöne Erinnerungen wie die an "Adorno Open Stage": Zwei meiner drei Kinder besuchen eine Schule, die nach Theodor W. Adorno benannt ist. Mehrmals im Jahr dürfen alle Kinder und Jugendlichen etwas aufführen auf einer offenen Bühne: "Adorno Open Stage" heißt diese simple, aber tolle Idee. Elfjährige sangen ganz allein die schwierigsten Popsongs von Adele, andere trauten sich ans Klavier - begleitet von bestärkenden Blicken der Musiklehrerinnen, die ihnen das zutrauen. Wieder andere gingen gemeinsam im Chor auf, "Hit the road Jack and don't you come back no more, no more, no more, no more!" Von Mal zu Mal wird es voller auf der Bühne - und im Publikum. Ich bin sicher, wir Menschen brauchen solche gemeinsamen Erlebnisse.

Diese Veranstaltungen waren so schön, dass ich zwei Stunden lang nicht aufs Handy schaute. Dieses Jahr will ich das an immer mehr Tagen versuchen – und diese kleine Weltuntergangsmaschine einfach mal ausschalten.

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