Moritz Puschke erinnerte in seinem Text an den Song "Ermutigung" von Wolf Biermann und an den Jugendlichen im friedensbewegten Protestantismus der 1980er, der er war. Dieses testimonial bewegt mich. Es geht mir, eine Handvoll Jahre älter, doch genauso. Ein starkes Lied, das uns stark geprägt hat! Dieses für ihn und mich wichtige Lied solle auch ins neue Evangelische Gesangbuch aufgenommen werden, schreibt Puschke. Außerdem fehle es dem gottesdienstlichen Singen überhaupt an solchen zeitgenössischen Liedern, die wir mit unserer Gesellschaft und Kultur teilen.
Karl Friedrich Ulrichs
Ich arbeite in der Kommission für das Gesangbuch mit, denke viel über das Singen in unseren Kirchen nach. Ich verstehe Puschkes Anliegen, bestreite aber, dass evangelische Gesangbücher keine "Lieder, die unserer Lebenswirklichkeit entspringen" bieten, wie Puschke meint. Und ich frage grundsätzlich, ob Puschkes Konzept hilfreich und hinreichend ist.
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Dass der "Sound der Straße" nicht im Gesangbuch zu vernehmen und mitzusingen sei, wird man mit Blick auf die Geschichte des Evangelischen Gesangbuchs so nicht behaupten können. Schon Luthers zweites Lied "Nun freut euch, lieben Christen g´mein" klingt nach einem Gassenhauer. Dem folgten weitere Choräle, denen Volksliedmelodien zugrunde liegen. 1961 ist mit "Danke" eine am deutschen Schlager gebildete Melodie in die Gemeinden sowie seinerzeit in die Hitparade gekommen und 1993 ins Evangelische Gesangbuch aufgenommen worden.
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Biermanns Ermutigungssong (Text 1968, Melodie 1974) fand sich in den 1980er Jahren in der sehr populären, weit verbreiteten christlichen Liedersammlung "Mein Liederbuch für heute und morgen" – gut möglich, dass auch Moritz Puschke seinen Lebenssong genau hier gefunden hat. Und es gibt ja sowieso nicht nur das eine Gesangbuch. Um einmal zwei bundesweit verwendete Gesangbücher zu nennen: Im Gesangbuch der Evangelischen Studierendengemeinde wie auch im Gesangbuch der Militärseelsorge finden sich Popsongs wie "Country roads", "How many roads", "I am sailing" und Cat Stevens "Morning has broken", das auch schon im Evangelischen Gesangbuch steht, sowie "You´ll never walk alone" oder "Tears in heaven".
Moritz Puschke möchte, dass die "besten Lieder" ins Gesangbuch, das "musikalische Kompendium für die großen Themen des Glaubens", aufgenommen werden. Dieser Superlativ bemisst sich allerdings nicht daran, ob jemand mit einem Lied als seinem favorite song lebt. Eine Mindestanforderung ist, dass es in einer Gruppe gesungen werden kann – das hat Wolf Biermann für sein Lied "Ermutigung" selbst gewünscht, das von Tonart und Rhythmus übrigens ohnehin eigenartig churchy ist; die Melodie hat der schwedische Komponist und Chorleiter Gunnar Eriksson geschrieben. Insofern …
Aber nicht alle Lieder eignen sich aus singpraktischen und ästhetischen Gründen für das Gesangbuch. Das zeigen auch Versuche, die schon unternommen wurden: Im Evangelischen Gesangbuch ist mit Ernst Arfkens famosem Vaterunserlied ein Calypso aufgenommen – aus dieser stark rhythmischen karibischen Melodie vermögen Gemeinden und ihre Organisten ein choralartiges Irgendetwas zu machen. Aber hört sich das gut an? Man wünschte darum nicht allen Popsongs eine evangelische Choralkarriere …
Unter den "besten Liedern" versteht Moritz Puschke "Lieder, die der Lebenswirklichkeit der Menschen entspringen" – ein gutes Kriterium, das nicht nur thematische Aspekte benennt, sondern auch literarische Qualität. Abstrakte Begriffe, zerredete Floskeln und zersungene Metaphern helfen dem Glauben und Singen nicht. Das ist ein Problem für manchen alten Choral in dogmatischer Tonlage wie für viele aktuelle Worshipsongs. Und nein, Gott muss nicht vorkommen, wie Puschke argwöhnt. Gottes Geist kommt dann schon von selbst vorbei. Mit "Lebenswirklichkeit" ist markiert, dass Erfahrungen von Glück und Gewissheit ausgedrückt, dass Klagen ausgesprochen und adressiert werden. Da können Emotionen nicht fehlen, die wir mit der Melodie verknüpfen. Wie das glücken kann, zeigt beispielhaft Jochen Arnolds Agnus Dei (Christus, Antlitz Gottes; Text: Susanne Kayser/Ilona Schmitz-Jeromin), ein Juwel gegenwärtigen geistlichen Komponierens.
Poetischer noch und schöner und anspruchsvoller ist es, wenn unsere Lieder und zumal die des Gesangbuchs nicht nur "aus der Lebenswirklichkeit entspringen", sondern umgekehrt in diese hineinspringen, sie neu deuten, damit bedeutend sind, wir mit ihnen eine neue Sprache versuchen und dem Klang des Vertrauens lauschen. Das erlebe ich bei einigen wertvollen alten Liedern und bei Songs unserer Zeit. Biblische Sprache aufzugreifen scheint dafür übrigens eine gute Idee zu sein, wie es etwa bei "Wenn ein Mensch lebt" von den Puhdys der Fall ist; dieser aus dem Film "Die Legende von Paul und Paula" bekannte Song umspielt Kohelet 3, taucht in biblische Sprache und Gedankenwelt ein, um in unserem Leben aufzutauchen. Musik von Singer-Songwritern ist bedeutungsvoll und deutungsoffen; nehmen wir Dota Kehrs "Für die Sterne" (Text und Musik: Stefan Ebert), das wir auch von uns als Menschen im Glauben und sogar von Jesus singen können: "Ich kenne ein'n Jungen / So seltsam und weise / Manchmal ist er Stunden / Ganz versunken und leise / Dann wieder wild / Und kaum zu halten / Als wäre er erfüllt / Von Naturgewalten. Er sagt: Ich bin nicht hier, um mich zu bemühen / Ich bin hier, um zu glüh'n / Ich bin hier, um zu blüh'n / Ich bin nicht hier, um dir zu gefall'n." In welchem Gottesdienst wird es zuerst gesungen? Aber ins Gesangbuch gehört es damit noch lange nicht.
"Du lass dich nicht verhärten … du brauchst uns und wir brauchen / grad deine Heiterkeit" – das singen wir weiterhin, egal, ob es im neuen Gesangbuch stehen wird oder nicht. Denn diesem wird kaum das Monopol zukommen, das die bisherigen Gesangbücher hatten; neben dem Evangelischen Gesangbuch gibt es gottlob ja auch weitere kirchliche Liederbücher und erstmals den drei- bis viermal so umfangreichen digitalen Bruder. Sehe ich recht, können sich Moritz Puschke und alle, die gerne vom Leben und Glauben singen, auf diese neue Sammlung von Chorälen und Songs freuen.