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Mein Lieblingslied aus dem Evangelischen Gesangbuch? Da muss ich nicht lange nachdenken. Es ist "Hinunter ist der Sonne Schein" – EG 467. Wenn ich als Kind nicht einschlafen konnte oder krank war, sang mir mein Vater das alte Lied abends gern vor. Ich höre noch seinen zu der Zeit ungebrochenen und klaren Tenor.
Wir lebten damals in London, dort war mein Vater Martin Hüneke von 1968 bis 1980 Pfarrer der deutschen evangelischen Gemeinde. Ich hatte vier ältere Geschwister. Und eine Mutter, die sehr viel mit uns, mit der Hausarbeit und mit der Gemeinde zu tun hatte.
Eddi Hüneke
Mein Vater war als Kind bei den Leipziger Thomanern gewesen und hatte dort den Zweiten Weltkrieg überstanden. Als junger Mann übernahm er häufig in Oratorien den Solopart des Evangelisten. Wie ich war er in den beiden Welten Musik und Kirche zu Hause. Anders als ich entschied er sich dazu, der Theologie den Vorrang zu geben.
Bei mir spielen die Musik und das Singen die erste Geige; das Theologiestudium schloss ich nie ab. Ich bleibe aber unter anderem über das Präsenzcoaching, das ich interessierten Pfarrerinnen und Pfarrern gebe, der Kirche verbunden. Die Stimme meines Vaters wurde übrigens in späteren Jahren kratzig und rau, er konnte zuletzt kaum noch sprechen, geschweige denn singen.
Was ist es nun an dem Lied "Hinunter ist der Sonne Schein", das mich nach wie vor fesselt? Die Melodie, aber auch die Harmonien entstammen hörbar einer anderen Zeit. Sie berühren mich zutiefst. Wir sangen das Lied bisweilen vierstimmig, im Originalsatz aus Melchior Vulpius’ "Schön geistlich Gesangbuch" aus dem Jahr 1609. Was für ein Geschenk, in einer Familie aufgewachsen zu sein, in der das mehrstimmige Singen problemlos möglich war!
Als ich später selbst Kinder bekam – vier an der Zahl –, sang ich ihnen selbstverständlich auch wieder mein Lieblingslied vor. Neben anderen Abendliedern gehörte "Hinunter ist der Sonne Schein" zu unserem Abendritual. Auch meinen Kindern bedeutet es viel.
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Die Kraft der über 400 Jahre alten Worte von Nikolaus Herman wirkt bis heute auf mich. Schon die zweite Zeile "Die finstre Nacht bricht stark herein" packt mich. Hier wird die Lebensrealität einer anderen Ära spürbar – als es noch kein elektrisches Licht gab, mit dem wir heute die "finstre Nacht" mal eben in die Schranken weisen können. "Klick!"
Die dritte Zeile der ersten Strophe birgt komprimierte Christologie: "Leucht uns, Herr Christ, du wahres Licht". Es gibt eben ein anderes Licht als das weltliche, und das ist immer für uns da, egal ob die Sonne scheint oder nicht.
Ich wurde, vielleicht durch dieses Lied, unbewusst schon früh auch mit der Idee vertraut gemacht, dass uns Gott "durch seine Engel" behütet. Dabei lagen Engel meinen Eltern eher fern – Popmusik übrigens auch.
Als wir mit den Wise Guys vor etwa zehn Jahren das Lied "Ein Engel" veröffentlichten, hatten sich meine Eltern mit meiner popmusikalischen Karriere in einer A-cappella-Band nicht nur abgefunden – nein, sie waren recht stolz darauf. Sie hatten sich wohl auch daran gewöhnt, dass Engel wieder "in aller Munde" sind, auch wenn ein solcher Gedanke in meiner Kindheit von ihnen eher belächelt worden wäre.
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Als mein Vater vor etwa sieben Jahren starb, standen wir fünf Kinder an seinem Sterbebett und sangen "Hinunter ist der Sonne Schein" ein letztes Mal für ihn. Diesmal brach meine Stimme.
Auch in meinem Soloprogramm habe ich heute Lieder im Programm, die Trost spenden und Mut machen wollen. Lieder wie "Alles wird gut" oder "Bitte gib nicht auf". Und ein Lied, das an meinen Vater und meine Kindheit erinnert: "Fahrradfahren". Ganz sicher werden mein eigener Mut, mein Durchhaltewille oder, wie die Theologin und Autorin Christina Brudereck sagt, meine eigene "Trotzkraft" von Liedern wie "Hinunter ist der Sonne Schein" genährt.