Klettern ist Christinas herausforderndes Hobby. Ihre Trainerin und Freundin hilft ihr bei der Suche nach dem richtigen Halt
Christina Lux
Krebserkrankung
Man kann ja nicht immer Angst haben
Christina Ernst ist 41, blind und todkrank. Seit der Krebs zurück ist, ist die Furcht allgegenwärtig, aber das Lebensglück auch
27.10.2024
12Min

Als wir in die Straßenbahn zur Kletterhalle steigen, bleiben ­einige Blicke an Christina Ernsts Gesicht hängen. Ah, ein langes Pflaster, denken die Leute vielleicht über das, was ihr rechtes Auge verdeckt. Wahrscheinlich hätte ich das auch gedacht, wenn ich ihr einfach so begegnet wäre. Tatsächlich hat sie gar kein echtes Auge mehr. Und das, was aussieht wie ein Pflaster, ist ein Stück von Christinas Rückenhaut.

Von der Straßenbahn bis in die Umkleidekabine nimmt Christina meinen Arm. Wäre sie allein, würde sie ihren faltbaren Stock aus dem Rucksack holen. Aber so ist es einfacher für sie. In der Umkleide muss ich über ihre Socken lachen. Sie sind knallbunt, und es sind Faultiere drauf. "Sie machen mir gute Laune", sagt Christina. Allein zu wissen, dass sie lustige Socken anhat.

"Als ich zwei war, habe ich oft nicht erkannt, ob meine Mutter oder mein Vater zur Tür reinkommt", erzählt sie. Schuld an ihrer Sehschwäche war ein Retinoblastom, eine seltene Krebserkrankung in der Netzhaut, bei ihr erblich bedingt. Ein Auge musste gleich entfernt werden, kurz vor ihrem vierten Geburtstag wurde auch das andere durch ein Auge aus Glas ersetzt. Von nun an war sie vollständig blind. Der Tumor galt als verschwunden.

Heute ist Christina Ernst 41, und ihr Weg war nicht der, den die Gesellschaft für blinde Menschen vorsieht. Statt ­einer Blindenschule besuchte sie erst die Grundschule, dann das Gymnasium um die Ecke. Das Abi schaffte sie mit 1,0 als erste blinde Schülerin überhaupt, die in ­Niedersachsen komplett integrativ beschult wurde.

Was Christina werden will, weiß sie da schon lange: Pastorin. Während eines Schüleraufenthalts in Kanada, den sie sich über Verwandte selbst organisiert hatte, war sie auf eine mennonitische Schule gegangen. Da gehörte es zum Alltag, über Werte, Glaube, Ethik zu sprechen. Sie studiert evangelische Theologie, promoviert, wird Pastorin, übernimmt ihre erste Gemeinde auf Probe. Eine Assis­tentin hilft ihr beim Konfirmandenunterricht, begleitet sie zu Geburtstagsbesuchen und auf Beerdigungen.

Drei Jahre ist sie Pfarrerin, dann wird sie persönliche Referentin für das höchste Laienamt der Evangelischen Kirche in Deutschland – Christina möchte wissen, wie ­Kirchenpolitik funktioniert. Sie schreibt Reden für die Präses Irmgard Schwaetzer, bereitet die Synode vor – das ist so etwas wie das evangelische Kirchenparlament. Die Arbeit an der Basis erfüllt sie allerdings noch mehr. Sie nimmt eine Stelle beim Forum Kirche und Diakonie in Göttingen an, einem Ort, der viele Beratungsstellen und Einrichtungen der Diakonie und das Theologische ­Studienhaus versammelt. Ihre Aufgabe ist es, die Angebote zu vernetzen und sichtbar zu machen.

Leicht ist das alles trotz hervorragender Leistungen nicht. Ihre erste Pfarrstelle bekommt sie nur gegen den Willen des halben Kirchenvorstands. Und als persönliche Referentin wird ihr gesagt, sie möge bitte nicht jeden Mittag mit den Kolleginnen essen gehen – die müssten sich doch auch mal erholen. Heute kann sie darüber lachen. Aber es ist kein amüsiertes Lachen.

Christina versucht auf ihre Weise, den Blick auf Blinde zu verändern. Auf Instagram schreibt sie unter dem Profil @christina.auf.der.spur vom prickelnden Gefühl, sich den Eisbach in München heruntertreiben zu lassen, postet Bilder vom Klettern im Harz und ein Video von ihrem ersten Gleitschirmflug, #waspastorinnensomachen. Sie erklärt, was sie mit Farben verbindet, wie sie Klamotten kauft und ermutigt Nutzer, sie alles zu fragen, was sie gern mal eine blinde Pastorin fragen würden.

Im Sommer 2020 wurde bei ihr dann ein Leiomyo­sarkom diagnostiziert, ein sehr seltener, sehr bösartiger Krebs. Christina rennt die Zeit davon. Seit Frühjahr 2023 ist die Behandlung palliativ, das heißt, der Krebs wird nicht mehr weggehen. Wie geht sie damit um?

"Ich habe acht oder zehn Metastasen", erzählt sie, als ich sie am Nikolaustag 2023 in Hannover besuche. Ihr Wohnzimmer ist mit Engeln, Sternen und Krippenfiguren geschmückt, zwischen uns brennt eine Kerze. Christina fährt mit ihren Fingern ihren Oberkörper ab, wo sie die Metastasen vermutet. Übermorgen werden ihr die Ärzte sagen, ob sie größer geworden sind.

Die Chemotherapien, die es bislang gibt, sind nicht spezialisiert auf diesen seltenen Krebs. "Wenn die Chemo nicht anschlägt oder sie meine Leber- und Blutwerte zu sehr belastet, gibt es noch zwei weitere Medikamente", sagt sie. Danach wäre man an dem Punkt, an dem man sagt: Man kann nichts mehr machen. "Und dann wird es, glaube ich, nicht mehr so lange gehen."

Lesen Sie hier eine Anleitung für die Sprechstunde. So erreichen Sie, dass Ärzte zuhören

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