Sarah ist 16 und glaubt an den Osterhasen, den Weihnachtsmann und an Gott. Sie hat dunkelblondes Haar, blaue Augen und sieht wie eine Zwölfjährige aus. Das Sprechen fällt ihr schwer, ihre Sätze sind kurz, oft murmelt oder weint sie. Sarah leidet an unheilbarer Neuronaler Ceroid-Lipofuszinose (NCL), umgangssprachlich Kinderdemenz genannt. Sie vergisst Worte, Menschen und ihr eigenes Leben. Die Krankheit greift ihr Gehirn an und hat sie erblinden lassen. Langsam verliert sie die Kontrolle über ihre Muskeln, beim Gehen braucht sie Hilfe, oft fährt sie Rollstuhl. Irgendwann wird sie sich wohl nicht mehr bewegen können.
Niemand kann sagen, wie lange sie noch leben wird. Aber wer an NCL erkrankt, wird nicht alt. "Im Kopf ist sie wie eine Achtjährige", sagt ihre Mutter. "Aber eine Achtjährige, die immer mehr geistige Fähigkeiten verliert." Wenn man mit Sarah redet, bekommt man knappe Antworten. Oder gar keine. Oft wirkt sie, als sei sie ganz woanders.
Heute wird Sarah getauft. Sie wünscht sich das seit langem, sagt ihre Mutter. Sarah glaubt an ein Leben nach dem Tod. Sie weiß, dass sie NCL hat, aber sie weiß nicht, dass sie daran sterben wird. Und doch scheint sie der Tod zu beschäftigen. "Sie hat mich gefragt, ob man seine Familie im Himmel wiedersieht", erzählt die Mutter, "und ich habe Ja gesagt." Sarah möchte, dass sich ihre drei Brüder heute mit ihr taufen lassen, denn sie glaubt, eine Taufe sei wichtig, um später in den Himmel zu kommen. "Mein Mann und ich sind evangelisch, aber wir haben unseren Kindern die Entscheidung selbst überlassen, ob sie sich taufen lassen wollen", sagt die Mutter.
Sarah lebt mit ihrer Familie in einem Hamburger Vorort. Gepflegte Gärten, Einfamilienhäuser, eine U-Bahn rattert vorbei. Es ist ein sonniger, warmer Morgen. In der offenen Küche sitzen die Brüder am Tisch und frühstücken. Fynn ist 18, schlank und dunkelhaarig. Dicht neben ihm sitzt Nick, ein stiller Siebenjähriger mit Brille. Der dreizehnjährige Mikko wirkt heute nachdenklich. Wenn es Sarah schlecht geht, ruft sie nach Mikko. Die beiden haben eine enge Verbindung, sagt er. Ihm setzt es manchmal zu, dass ihr gemeinsamer Lebensweg begrenzt ist. Wenn ihn die Traurigkeit übermannt, lenkt er sich mit Star-Wars-Serien ab, sagt er.
Würden sie sich auch taufen lassen, wenn Sarah nicht darum gebeten hätte? "Nein", sagt Fynn. Nick ist sich unsicher, Mikko sagt Ja.
Der Vater kommt in die Küche, ein schlanker, ruhiger Mann. Er ist berufstätig, seine Frau pflegt Sarah rund um die Uhr. Sarah muss gefüttert und gewaschen werden. Auch auf der Toilette braucht sie Hilfe. Vater, Mutter und der älteste Bruder kümmern sich darum. "Mit einer schwer kranken Schwester wird man früh erwachsen", sagt Fynn.
Wenn Sarah klare Momente hat, begreift sie, wie ihr die Krankheit zusetzt. "Mama, ich vergesse meine Freunde", sagte Sarah neulich – und sah dabei furchtbar traurig aus, erzählt die Mutter. Sie weiß dann gar nicht, was sie tun soll, und umarmt ihre Tochter.
Der Vater zieht sich das Sakko an, treibt die Söhne aus der Küche, gleich geht es zur Kirche. Vor der Haustür wartet schon ein Dutzend Gäste, während Sarah in ihrem rosa gestrichenen Kinderzimmer mit einer Puppe spielt. Auf dem Boden liegen Malhefte, die Sarah trotz ihrer Blindheit ausgemalt hat. Ihre Mutter hilft ihr, die Stifte zu führen. Sarah glaubt, dass die Wissenschaft bald ein Heilmittel gegen ihre Krankheit entwickeln werde. Dann werde sie die bunten Zeichnungen sehen können, hofft sie.
Das wird wohl kaum passieren. NCL ist eine sehr seltene Krankheit. Die Entwicklung eines Medikaments fände weder bei der Pharmaindustrie noch in der Bevölkerung die nötige Beachtung, kritisiert die NCL-Stiftung. Sie wirbt für mehr Aufmerksamkeit für die Krankheit, unterstützt Betroffene mit Beratung und einem Netzwerk aus ehrenamtlichen Helferinnen und Helfern. Stiftungsvorstand Frank Stehr hofft auf neue Forschungsergebnisse. "Um NCL irgendwann zu heilen, muss man bestimmt verschiedene Medikamente einsetzen. Ein einziges wird nicht ausreichen." Stehr setzt auf die Zukunft, spricht über Gentherapien. "Aber um so was auf den Markt zu bringen, muss man mindestens mit einem hohen zweistelligen Millionenbetrag rechnen", sagt er.
Noch wissen Forscher viel zu wenig über die Krankheit, sagt Miriam Nickel. Sie ist Sarahs Ärztin und arbeitet seit 20 Jahren am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, betreut an Demenz erkrankte Kinder und Jugendliche. Nickel hat sich auf NCL spezialisiert. In Eppendorf wurde vor acht Jahren auch Sarahs Erkrankung diagnostiziert. Am Telefon berichtet Nickel über die Tücken der Kinderdemenz. "NCL-Krankheiten betreffen das Denken. Betroffene leiden an Demenz, an Sehstörungen bis zur Blindheit. Dazu kommen motorische Probleme, Epilepsie und ein genereller Abbau aller körperlichen Funktionen", sagt sie.
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Patienten kommen gesund zur Welt, aber in den Zellen von Gehirn und Netzhaut lagert sich Material ab, das nicht abgebaut wird. Das führt zur Blindheit und zum Schrumpfen des Gehirns. Denken, Koordination, Sprechen – all das geht nach und nach verloren, sagt Nickel. Es gibt keine Heilung. "Der Mechanismus, der für die Zerstörung der Zellen verantwortlich ist, ist trotz internationaler Forschung noch nicht geklärt." NCL wird vererbt. Nur wenn beide Elternteile die Veranlagung in sich tragen, kann ein Kind mit einer Wahrscheinlichkeit von 25 Prozent daran erkranken.
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