Widerstand gegen die Nationalsozialisten
Wie hätte ich gehandelt?
Vor 80 Jahren scheiterte das Attentat auf Hitler. Sind die Männer des 20. Juli 1944 für uns heute noch Vorbilder? Ja, sagt Bestsellerautor Tim Pröse - allerdings in einem ungewöhnlichen Sinne
Berlin. Bendler-Block, ehemaliges Oberkommando des Heeres. In der Gedenkstätte zeigt eine Bildtafel die Portraits von Widerständlern gegen die Hitlerdiktatur. Darunter auch das Foto von Stauffenberg
Eine Schulklasse vor Porträts von Widerstandskämpfern in der Gedenkstätte im Berliner Bendler-Block. Im Hof des Gebäudes wurden am Abend des 20. Juli 1944 Stauffenberg und einige seiner Mitstreiter erschossen.
Hans-Juergen Burkard/laif
Tim Wegner
17.07.2024
6Min

Warum sollten wir uns 80 Jahre nach dem Attentatsversuch vom 20. Juli 1944 an die ermordeten Widerstandskämpfer und -kämpferinnen erinnern?

Gerade heute, wo manche den Nationalsozialismus als "Vogelschiss in der Geschichte" abtun wollen, ist Erinnern wichtig. Die Menschen vom 20. Juli 1944 ermutigen uns. Wir haben heute wieder neue radikale Kräfte, neue Diktatoren, neuen Terror. Das, was die Widerstandskämpfer vom 20. Juli schultern mussten, und wie sie damit umgegangen sind, kann uns Mut machen. Denn auch wir müssen uns großen Herausforderungen stellen. Sie sind Helden und Vorbilder.

Warum haben die Männer um Claus Schenk Graf von Stauffenberg das Attentat verhältnismäßig spät, erst 1944, versucht?

Die Planung ging zwei Jahre vorher los. Damals, das muss man sich in Erinnerung rufen, stand die überwältigende Mehrheit der Deutschen hinter Hitler! Man hat also gewartet - auch in der Hoffnung, dass das Volk umdenkt, dass es bereit wird für einen Umbruch. Es gibt die These, dass die Männer vom 20. Juli zu spät gekommen seien. Aber: Nach dem 20. Juli 1944 sind in den Vernichtungslagern und im Krieg noch einmal so viele Menschen ermordet worden und umgekommen wie in allen Kriegsjahren zuvor. Ihr Versuch war also vielleicht spät, aber sicher nicht zu spät.

Tim PrösePrivat

Tim Pröse

Der Autor und freie Journalist lebt in München. Im Mai 2024 erschien von ihm "Wir Kinder des 20. Juli". 2016 hatte er das Buch "Jahrhundertzeugen. Die Botschaft der letzten Helden gegen Hitler" veröffentlicht (beides Heyne) Er hält regelmäßig Vorträge zum Widerstand gegen die Nationalsozialisten.

Haben die Widerstandskämpfer erst gehandelt, als klar war, dass Deutschland den Krieg verlieren würde? Ging es Ihnen also "nur" um Deutschland oder auch um die Millionen Toten des Naziterrors?

Es gibt viele Aussagen, die zeigen, dass es ihnen um mehr ging als um das Überleben Deutschlands. Henning von Tresckow, General und so etwas wie der Anführer des Widerstands, hat gesagt: Egal, ob die Tat gelingt oder scheitert – und er hat sehr wohl mit dem Scheitern gerechnet –, egal, wie es ausgeht, die Tat muss ausgeführt werden. Es geht darum, der Welt zu zeigen, dass wir das nicht hingenommen haben, dass die Deutschen sich gewehrt haben. Er sah das Attentat als ein moralisches Zeichen.

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Es gab unter den Verschwörern Antisemiten. Sie haben die Verfolgung der Juden lange mitgemacht, bevor sie gehandelt haben. Sind sie also ambivalente, gebrochene Helden?

Ja, das stimmt bei einigen. Ich frage mich immer: Was hätte ich gemacht? Hätte ich den Mut gehabt, früh zu verweigern, ganz früh in den Tod zu gehen? Oder wäre ich nicht auch zunächst mitgegangen, in den Krieg gezogen? Und hätte ich dann wenigstens später den Mut gehabt, mich in den Widerstand einbinden zu lassen? Wenn wir auf die Männer des 20. Juli schauen, dann sehen wir Männer, die sich gewandelt haben. Einige von ihnen waren Antisemiten oder waren Nationalsozialisten, aber dann haben sie die Kraft aufgebracht, das Falsche zu erkennen und sich zu verändern.

Vielleicht liegt die Vorbildfunktion dann gar nicht nur in ihrem Mut. Sind sie Vorbilder, weil sie sich eingestehen konnten, falsch gedacht zu haben, und die eigenen Ansichten geändert haben?

Sie haben nicht aufgehört zu denken, eigenständig sein zu wollen. Und das in einer Zeit, in der es verboten war, selber zu denken. Und es ist auch wichtig zu sehen: Ab dem Zeitpunkt, als Hitler sich in der Wolfsschanze, also seinem viel bewachten Führerhauptquartier versteckt hatte, war die einzige Möglichkeit, etwas gegen ihn zu tun, dass ein mutiger Offizier ihn tötet. Niemand sonst konnte noch an ihn herankommen.

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In Ihrem neuen Buch "Wir Kinder des 20. Juli" wenden Sie sich den Nachkommen zu. Was macht deren Geschichte besonders?

Ich beginne das Buch mit der Beschreibung des Gedenkgottesdienstes, den die Nachkommen bis heute jedes Jahr in Plötzensee feiern. Also an dem Ort, an dem ihre Väter auf brutale Weise an Fleischerhaken erhängt wurden. Sie konfrontieren sich mit dem Leid. Dieses Leid spielt in ihrem Leben eine große Rolle – aber nicht so, dass es sie niederdrückt. Sondern so, dass es sie motiviert.

Wie erging es den Kindern der Widerstandskämpfer nach dem Attentat?

Berthold von Stauffenberg, der Sohn von Claus von Stauffenberg, verstand die Welt nicht mehr. Er hörte im Radio, dass sein geliebter Vater versucht habe, Hitler zu töten. Er las es am nächsten Tag auch in der Zeitung. Und dann klopfte die Gestapo und hat ihn und seine Geschwister in ein Umerziehungslager verschleppt. So war es bei den Kindern der anderen Widerstandskämpfer auch.

Es ist beinahe nicht zu glauben, dass die Nationalsozialisten die Familien der Widerstandskämpfer am Leben gelassen haben. Wie kam das?

SS-Reichsführer Heinrich Himmler hatte eigentlich verfügt, dass die Familie Stauffenberg "bis ins letzte Glied ausgelöscht" wird. Dass das nicht geschah, lag vermutlich an der Weitsicht der Mütter wie Nina von Stauffenberg. Sie hat ihre Kinder nicht zu Widerstandskämpfern erzogen. Sie hat sie als ganz normale Kinder der Zeit groß werden lassen, mit Hitlerjugend und allem. So waren die inhaftierten Kinder offensichtlich von den Taten der Väter verstört, und das hat ihnen wahrscheinlich das Leben gerettet.

Und nach dem Ende des Krieges?

Nach dem Krieg waren sie Verräterkinder. Ihre Mütter, die Frauen der Widerstandskämpfer, haben jahrzehntelang keine Witwenrente bekommen. Die Frau von Roland Freisler, dem berüchtigten "Blutrichter" der Nationalsozialisten, der auch die Widerstandskämpfer zum Tode verurteilt hat, bekam bis ins hohe Alter die vollen Rentenbezüge. Die "Kinder des 20. Juli" haben die Konsequenzen der Tat ihrer Väter also nach dem Krieg mittragen müssen.

Sie schreiben, "die Trauer der Kinder ist eine Demonstration für das Gute". Wie meinen Sie das?

Ich sehe das fast wie eine Prozession, wie ein Bekenntnis: Seht her, da sind unsere Väter bitterlich gescheitert. Sie sind gequält worden. Und genau deswegen glauben wir noch einmal mehr an das Gute. Das ist für mich wie das christliche Kreuz – viele der Nachkommen sind gläubig. Das Kreuz ist ein Symbol für die komplette Niederlage: Schlimmer geht es nicht, als am Kreuz getötet zu werden. Es ist ein Symbol für Tod und Scheitern – und für uns Christen trotzdem ein Hoffnungssignal. So ist es mit den Kindern des 20. Juli auch: Wenn sie sich mit dem Abgrund, dem Schlimmsten in ihrem Leben konfrontieren, dann schöpfen sie Hoffnung für ihr Tun.

'Wir Kinder des 20. Juli' von Tim Pröse. Heyne Verlag, 368 Seiten, 22 Euro

Sind aus dieser "Geisteshaltung" auch konkrete Taten gefolgt? Engagieren sich die Kinder des 20. Juli politisch?

Nicht parteipolitisch. Aber jeder hat etwas getan, um die Spuren der Eltern aufzunehmen. Sie haben in ihren bürgerlichen Leben die Werte hochgehalten, für die die Väter gestorben sind. Das mag man selbstverständlich finden, aber wenn es denn gelingt am Ende des Lebens, dass die Mitmenschen sagen: "Das war ein guter Mensch", dann ist das eine Leistung.

Wie stehen sie zur AfD, die auf Wahlplakaten mit dem Gesicht von Stauffenberg geworben hat?

Einige der Nachkommen des 20. Juli sind konservativ-christlich und sich darin vollkommen einig, dass die AfD ein Feind ist. Dass sich hier Geschichte wiederholt. Sie sind in meinen Augen sogar die stärksten und glaubwürdigsten Oppositionellen gegenüber der AfD.

Gibt es eine öffentliche Erklärung dazu?

Ja, kurz nach Bekanntwerden der sogenannten "Remigrationspläne" Anfang des Jahres haben viele der Nachkommen die Erklärung "Aus der Geschichte lernen, Demokratie stärken" abgegeben. Dort sagen sie und Hunderte weitere Unterzeichner, dass man dieser neuen Rechtsradikalisierung die Stirn bieten muss, und zwar im Geiste der Widerstandskämpfer des 20. Juli 1944.