Wiehnachten!" Erst kurz vorm Totensonntag fiel dieses Wort bei uns zu Hause immer häufiger. Lichterschmuck oder Marzipan vor dem ersten Advent? Gehört sich nicht. Als Kind fing die Adventszeit für mich mit diesem Satz an: "Bald is Dodensündach, un denn is og al Wiehnachten." Ich bin auf einem Bauernhof in Schleswig-Holstein aufgewachsen, Plattdeutsch ist unsere Sprache: "Bald ist Totensonntag und dann kommt auch schon Weihnachten."
2021 sind in Deutschland 1 023 723 Menschen gestorben, 2800 jeden Tag. Zwei Menschen gehören dazu. Meine Eltern. Im Januar ist mein Vater gestorben, im März meine Mutter. Dieses Weihnachten wird das erste sein, an dem sie nicht mehr da sind. Das Jahresende ist die Zeit, in der man Bilanz zieht, zurückblickt. Nun ist da eine Lücke. Und es gibt keine Antworten mehr auf viele Fragen, die man noch hatte.
Nils Husmann
"Wiehnachten!" Als ich klein war, klang dieses Wort nicht nur wie ein Versprechen auf Geschenke, sondern immer auch nach Sorgen. Denn Weihnachten bedeutete bei uns: Da kommt ein Fest, das bitte, bitte schön werden soll, das eigentlich schön zu werden hat – aber bei dem jede Menge dazwischenkommen kann. Vielleicht muss der Tierarzt kommen, vielleicht kalbt Heiligabend eine Kuh. Später, als der Hof zu klein geworden war und meine Eltern einen Hausmeisterdienst gegründet hatten, machten wir uns Sorgen wegen des Wetters. Alle Kinder träumten von weißen Weihnachten, für uns war Schnee fast schon ein Alptraum. Die Eltern, meine großen Geschwister und ich – wir alle hätten ihn wegschippen müssen vor den Häusern unserer Kunden, damit dort niemand ausrutscht.
Und oft kam etwas dazwischen. Ich weiß noch, dass einmal unser Auto weg war, am Morgen des 24. Dezember. Geklaut, so schien es. Meine Mutter stand in der Diele, war jetzt die Katastrophe eingetreten? Sie seufzte, zynisch, aber den Tränen nah: "Na denn man frohe Wiehnachten." Stunden später klärte sich die Sache auf. Mein Bruder war nachts von einer Feier gekommen, hatte keinen Schlüssel für die Haustür dabei, nur einen fürs Auto, und mit dem war er in seine eigene Wohnung gefahren. Aber der Blick meiner Mutter verriet mir: Dieses Fest ist so groß, dass es auch in sich zusammenstürzen kann.
Für meine Eltern war Weihnachten das, was ihr ganzes Leben ausmachte: Arbeit. Alle hatten ihre Vorstellungen, die Mutter tat alles dafür, die Wünsche zu erfüllen. Ente mit Kartoffeln und Rotkohl? Wenn das der Wunsch war – tja, dann musste das so sein. Dafür schwitzte sie den ganzen Tag in der Küche. Als Kind hatte ich das Talent, Heiligabend auf die zwei Stunden zusammenschnurren zu lassen, in denen ich Geschenke auspacken und unbegrenzt englische Weingummis vom bunten Teller naschen durfte, die Mama extra für mich gekauft hatte. Den Stress der anderen übersah ich, den muss ich heute tief aus meinen Erinnerungen kramen. Meine Eltern sackten abends müde in sich zusammen und waren – glaube ich – froh, wenn der Fernseher die Erwartungen begrub, dass sich alle noch besinnlich etwas erzählen sollten.
Fragen kann ich sie nicht mehr, wie sie das damals alles empfanden. Wir haben Fotos von ihnen auf ein Stehpult gestellt, daneben die Trauerbriefe, oft stehen auch Blumen dort und manchmal zünden wir eine Kerze an. Wann baut man so etwas eigentlich ab?, denke ich manchmal. Wenn das Trauerjahr vorbei ist?
Es gibt Tage, an denen ich mir die Zeit nehme, um die Fotos aufmerksam zu betrachten. Meistens bin ich dann allein. Ich weine eigentlich nicht mehr um meine Eltern – nicht mit Tränen jedenfalls –, aber es gibt drei Dinge, die ich bedauere: Dass ich nicht weiß, ob mein Vater hat leiden müssen, als er starb. Dass ich nicht dabei war, als meine Mutter ging. Und dass ich sie nichts mehr fragen kann.
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Und ich will ehrlich sein: Ich habe meine Eltern lieb, aber ich redete selten mit ihnen über ihr Leben, ihre Gefühle. Ich glaube, sie signalisierten uns Kindern unbewusst, dass man vieles mit sich selbst ausmachen muss. Das ist vielleicht das Schicksal der Menschen, die in den 30er und 40er Jahren geboren wurden. Freunde mit jüngeren Eltern, die zu Hause über alles reden konnten, beneidete ich. Aber auch als meine Eltern älter und ein bisschen gesprächiger wurden, brachte ich selten die Geduld auf, ihnen in Ruhe zuzuhören. Das gehört zur Wahrheit.
Es gibt Momente, an denen ich schnell am Trauerstehpult vorbeihusche, ihren Blicken auf den Fotos regelrecht ausweiche, weil mir mein Leben dafür gerade keine Zeit lässt oder ich mir die Ruhe dafür nicht nehmen will. Als wollte ich sagen: "Deit mi leed, awer ick mut wiedermoken." – "Tut mir leid, aber ich muss weitermachen."
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Ich glaube, die Art, wie ein Mensch stirbt, bestimmt mit darüber, wie wir an ihn denken. Meine Mutter war dement geworden, kurz vor der Pandemie fing es an. Wir rechneten damit, dass sie nicht mehr lange leben würde. Und wir hatten Angst vor dem Tag, an dem unser Vater erfahren würde, dass sie tot ist. Sein trauriger Blick verriet, dass er eigentlich verstanden hatte: So, wie sie war, würde sie nie mehr werden, Demenz ist eine Einbahnstraße. Aber das konnte er weggrübeln, und dann schien er guten Mutes, dass alles wieder gut werden würde. Vor allem, wenn er seine Radtouren unternahm, jeden Tag, noch mit 83 und auch noch am Tag, bevor er starb. Wenn ich mich draußen bewege, bin ich ihm manchmal sehr nah, ist wirklich so.
Meine Tante telefonierte an jenem Samstagmittag Ende Januar noch mit ihm, er klang fröhlich, erzählte sie uns später. Dann legte er sich hin zu seinem Mittagsschlaf. Nachmittags versuchte ich, ihn anzurufen, niemand hob ab. Abends fand mein Bruder ihn, ganz friedlich. Neulich hörte ich einen Wissenschaftspodcast, und das war ein Glück, denn ein Mediziner erklärte: Wenn ein Herz aufhört zu schlagen, dauert es sieben Sekunden, bis ein Mensch das Bewusstsein verliert. Selten hat mir eine Information so geholfen wie diese. Sieben Sekunden, ich zähle sie manchmal nach: eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben. Er hatte wohl eine echte Chance, dass er gar nicht mehr aufgewacht ist, ihm nichts mehr wehtat und er keine Angst haben musste.
Wenn jemand plötzlich geht, versteht man, dass man vielleicht einen Preis dafür zahlen muss, einen Besuch aufgeschoben zu haben. Dieses Jahr wären wir aber wirklich hochgefahren in den Norden, 521 Kilometer. Oder mein Bruder wäre mit Papa zu uns gekommen. Oder wir hätten ihm ein ICE-Ticket gekauft und darauf bestanden: Du kommst! Letztes Jahr wollte er nicht verreisen, seine Frau auf gar keinen Fall alleinlassen, auch wenn er sie nur unregelmäßig im Pflegeheim besuchen durfte – Corona. Vielleicht war er auch einfach müde geworden und schwach. "Lebenssatt", das Wort habe ich gerade erst irgendwo gelesen. Es gefällt mir gut.
Im vergangenen Jahr wollten wir Weihnachten auch nicht so recht zu ihm, die weite Fahrt, der Stau, vielleicht schneit es und es wird glatt. Aber wir wussten, dass er anrufen würde, Heiligabend, Punkt 18 Uhr. "Frohe Wiehnachten! Un so een schönen Boom wie ick höbbt ji nich!" – "Frohe Weihnachten! Und so einen schönen Baum wie ich habt ihr nicht." Sein Baum war künstlich, und dass er perfekt und kerzengerade war, hat ihn verschmitzt gefreut. Wir haben noch ein Foto davon. Er steht da neben dem Baum und lacht.
Meine Mutter dämmerte an ihrem letzten Weihnachtsfest im Pflegeheim vor sich hin. Hätten wir sie angerufen, hätte sie nicht verstanden, worum es geht. Wenn sie etwas sagte, machte es keinen Sinn mehr. Wir wissen nicht, ob sie verstand, dass ihr Mann nie mehr kommen würde. Mein Bruder sagte es ihr an ihrem Bett, wir sahen am Smartphone zu. Zur Beerdigung unseres Vaters konnte sie nicht gehen. Viele Gäste auf der Trauerfeier ihres Mannes redeten über sie, als wäre sie schon längst tot. Das war bitter, aber ich nehme es niemandem übel, sie war einfach leise verschwunden. Ein elend langer Abschied auf Raten. Sie starb zwei Monate nach ihrem Mann, fast auf den Tag genau. Und drei Tage vor ihrem 60. Hochzeitstag. Jemand aus dem Heim gab Bescheid, dass es vielleicht zu Ende geht, aber ich konnte nicht hin – Corona. Ich glaube, 2019 habe ich ihr zum letzten Mal "Frohe Wiehnachten!" gewünscht.
Wir müssen nun unsere eigenen Weihnachtstraditionen schreiben, einige gibt es schon. Den Baum schmücken wir am 23. Dezember. Das Krippenspiel der Kita gehört dazu, bei dem immer wenigstens eines unserer Kinder mitmacht. Eine CD mit Liedern, die schon im Advent in Dauerschleife läuft. Würstchen mit Kartoffelsalat, nicht sehr einfallsreich, aber die Kinder bestehen darauf.
Den Stress, den ich bei meinen Eltern an Weihnachten vermute, rückblickend, den empfinden wir jetzt auch. Bei uns kalbt keine Kuh, wir müssen keinen Schnee schippen, aber in den vergangenen Jahren waren wir an Heiligabend oft trotzdem ziemlich fertig. Und ja, dann doch froh, wenn jemand irgendwann den Fernseher einschaltete. Wir wollen eine Familienkonferenz machen und besprechen, wie wir das in diesem Jahr anders gestalten könnten. Entspannter. Unperfekt. Und warum eigentlich nicht chaotisch?
In diesem Jahr werden meine Geschwister und meine Schwiegereltern anrufen, Onkel und Tanten, und ich habe wieder Kontakt zu meinen Cousinen und Cousins; nächstes Jahr wollen wir uns alle treffen. Aber meine Eltern kommen nicht mehr wieder. Bestimmt wird das komisch. Aber wie genau es sein wird? Keine Ahnung, wie es uns Weihnachten an unserem kleinen Traueraltar geht. So was kann man nicht planen. Das kommt einfach.
Auf jeden Fall gehen wir zusammen in die Kirche, zum Krippenspiel, die Tochter spielt Josef. Ich hoffe, die Pfarrerin, die so schöne Fürbitten spricht, wird auch dort sein. Eine geht so: "Wir denken jetzt ganz besonders an die, die wir gerne heute hier hätten und die es nicht sind, weil sie nicht können oder nicht mehr leben. Wir vermissen sie." Zwei der Menschen, die fehlen, gehörten zu uns. Aber sie durften alt werden und viel erleben. Das ist nicht selbstverständlich.
Ich möchte, das habe ich mir fest vorgenommen, bei dieser Fürbitte auch an die Familien denken, die viel zu früh jemanden verloren haben. Eine junge Mutter, einen jungen Vater. Oder sogar ein Kind. Und dann, erst dann, will ich auch an meine Eltern denken, weil ich mir sicher bin, dass sie sagen würden: "Dat mok man so!" – "Dann mach es so!"
Frohe Wiehnachten, Mama und Papa!
Text von Nils Husmann: "Frohe Weihnachten" Mama und Papa
Moin, moin lieber Herr Husmann,
erlauben Sie, dass ich noch einmal auf die Ausgabe der „Chrismon plus“ vom Dezember 2022 zurückkomme.
Ihre Erzählung im Text: „Frohe Weihnachten Mama und Papa!“ hat es mir sehr angetan, mich tief berührt. Zwei wichtige Sätze haben etwas in mir ausgelöst, was mich seit August 1977 immer wieder anspricht: Das ich nicht dabei war, als meine Mutter ging. Dass ich sie nichts mehr fragen kann.
Ich habe es sehr genossen, dass Sie ab und an einige Worte in Plattdeutsch eingebracht haben. Ich liebe diese Sprache; denn es ist meine Heimatsprache (ich bin eine „Kieler Sprotte“).
Doch zu den beiden Sätzen und allem, was Sie geschrieben haben. In dem von mir genannten Monat und Jahr ist meine Mutter gestorben. Viel zu früh (im Dezember wäre sie 57 geworden). Ich war nicht dabei, niemand von der Familie war dabei. Mein Vater im Krankenhaus, mein Bruder ebenfalls ausgezogen, meine Oma schon lange Tod), wobei es mir ganz besonders nahe geht, bis heute.
Nach meiner Zeit bei der Marine bin ich aus Kiel weg gegangen. Mein Vater war ein sehr harter und autoritärer Mann. Ich konnte nicht mehr mit ihm unter ein Dach wohnen. Mein Bruder war schon eher weggezogen (ins tiefste Bayern). Praktisch habe ich meine Mutter mit ihm alleine gelassen. So habe ich mich später oft gefühlt. Zu meiner großen Freude hat sie zumindest noch meine Hochzeit mit erleben können. Nicht aber ihre Enkelkinder, über die sie sich ganz bestimmt sehr gefreut hätte.
Meine Mutter ist in der Innenstadt von Kiel (Holstenstraße) zusammen gebrochen und dann gestorben. So wurde es uns gesagt. Niemand war also bei ihr. Ich hoffe zumindest auf freundliche und hilfsbereite Passanten. Sie, die uns das Leben geschenkt und für uns gesorgt hat. Sie war ein liebes „Schaf“ (bitte nicht falsch verstehen). Damit habe ich an sie natürlich eine gute Erinnerung (im Gegenteil zu meinem Vater). Darum ist es umso schmerzlicher, dass ich nicht da war in der größten Stunde der Not.
Ich wohne seit über 40 Jahren in Münster-Hiltrup. Habe Familie mit drei Jungs. Genauso lange bin ich ehrenamtlich in der Kirchengemeinde und im kirchlichen Bereich aktiv. Vor einigen Jahren habe ich dann eine Ausbildung zum Prädikanten gemacht und darf seit dem erfolgreichen Abschluss Gott dienen. Ich bin auch immer wieder zu einem Gottesdienst in einem Seniorenheim. Im letzten Jahr kam die Ansage aus der Leitung, dass eine ältere Frau gerne einen Besuch hätte. Ich kenne diese Frau aus unserer Gemeinde. Selbstverständlich habe ich sofort zugesagt. Dann kam dauernd etwas dazwischen (Corona – dann wurde sie zwischendurch krank, immer wieder Aufenthalte in Krankenhäusern). Doch ich blieb solange dran, bis es endlich geklappt hat und ich sie in einem Krankenhaus besuchen durfte.
In der Wartezeit hörte ich immer mal wieder, dass es doch gut wäre. Es klappt eben nicht, und vielleicht ergibt sich noch eine neue Möglichkeit. Lieber Herr Husmann, ich konnte gar nicht anders, ich musste der Frau diesen Wunsch erfüllen. Das natürlich zeitnah; denn ich hatte die große Sorge ………………. Ja, dass mir genau das passieren könne wie bei meiner Mutter. Ich musste unbedingt ihrem Wunsch nachkommen. Ich war richtig froh, als es endlich doch gelungen ist. Sie ist inzwischen auch wieder im Seniorenheim.
Für mich der Beweis, wie sehr mich der einsame Tod meiner Mutter bis heute begleitet.
Daran schließt dann der zweite Satz an: ich habe nur noch zwei Cousinen. Ich kann niemanden mehr fragen. Es gibt so viele Lücken die ich nicht mehr klären kann. Wenn ich alte Fotos sehe, dann sehe ich Menschen, deren Namen ich sogar manchmal kenne (oder wie wir sie genannt haben); aber mir fehlt der Hintergrund. Ich kann sie meiner Familie nicht zuordnen. Und ja, ich habe in meiner Kindheit und Jugend einfach zu wenig gefragt. Aber das war eben so, irgendwie wie ein tabu, das man nicht brechen sollte (dürfte). Da gibt es eine große Lücke die ich gerne mit entsprechendem Wissen gefüllt hätte.
Darum kann ich jede Zeile Ihres Textes gut nachvollziehen.
Hans-Werner Kleindiek
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