Standpunkt - Ein bisschen was geht immer
"Spielräume klug zu nutzen hat auch mit Leichtigkeit zu tun"
Kristina Heldmann
Fastenaktion 2021
Ein bisschen was geht immer
Gemeinschaften brauchen Regeln. Und dazwischen viele Spielräume, um menschlich zu bleiben. Die sollten wir öfter nutzen, kreativ und mit Fantasie
Portrait Hanna Lucassen, Redaktion chrismon, Redaktions-Portraits Maerz 2017Lena Uphoff
28.01.2021
6Min

Vorgelesen: Standpunkt "Ein bisschen was geht immer"

Mein Vater ist ein kluger Mann. Er kann Knoten lösen. Ich war vor einiger Zeit echt in der Klemme. Meine Patentante in Hamburg war gestorben, die Beerdigung stand an. Tante Leni hatte die letzten zehn Jahre im Pflegeheim gelebt, sie war schwer dement, es gab kaum mehr Freunde. Ich wollte unbedingt zur Trauerfeier fahren, um sie noch einmal zu ehren und meiner Cousine zeigen: Ihr seid mir wichtig.

Aber dann war da Corona. Meine Stadt, Frankfurt am Main, war schon Risikogebiet. Ein paar Stunden im womöglich vollen Zug und dann mit ­alten Menschen bei der Trauerfeier – ist das nicht extrem unverantwortlich?
Fahren oder nicht fahren – ich konnte mich partout nicht entscheiden. Zufällig rief mein Vater an. Er hörte sich mein Gejammer an und sagte: "Jeder wird verstehen, wenn du in diesen Zeiten nicht kommst. ­Warum ist dir das so wichtig?" Na, meine ­Tante ­ehren, Mitgefühl zeigen . . . Er fragte weiter: "Vielleicht kannst du das auch tun, ohne hinzufahren?"

Portrait Hanna Lucassen, Redaktion chrismon, Redaktions-Portraits Maerz 2017Lena Uphoff

Hanna Lucassen

Hanna Lucassenarbeitet als freie Journalistin in Frankfurt am Main und gehört zum Team von "7 Wochen Ohne", der Fasten­aktion der evangelischen ­Kirche. Das Motto der dies­jährigen ­Aktion heißt "­Spielraum! Sieben Wochen ohne ­Blockaden".

Da platzte der Knoten. Ich schrieb ein paar Zeilen für Tante Leni und ihre Familie und bat meinen Sohn, mich beim Vorlesen mit dem Handy zu filmen. Ein Cousin zeigte diese kleine Videobotschaft in Hamburg während des Trauercafés. "Es war so schön, dich zumindest virtuell dabei zu haben", schrieb meine Cousine ­später. Vielleicht sogar besser als in echt. Eine Rede auf Tante Leni hätte ich sonst nicht gehalten.

Manchmal braucht es jemanden, der einen darauf stößt, dass man sich verrannt hat. Mein Vater stellte ­genau die richtige Frage: Worum geht es ­wirklich? Wenn ich das beantworten kann, weiß ich, was ich festhalten will – und was ich loslassen kann. Plötzlich eröffnet sich ein Spielraum.

Standbein und Spielbein

Wir haben oft viel mehr Möglichkeiten, als wir sehen. Wir haben nicht nur ein Standbein, sondern auch ein Spielbein. Kommt aus der Bewegungs­lehre: Während eines Schritts hält immer ein Bein den Boden­kontakt. Das Standbein steht fest und gerade, trägt das ganze Gewicht. Das andere aber, das Spielbein, das ist frei. Es bewegt sich in der Luft, kann vorwärts, rückwärts, seitwärts . . .
"Du stellst meine Füße auf weiten Raum", steht in der Bibel in Psalm 31. Das Spielbein lotet meinen Raum aus: In welche Richtung kann ich gehen? Wo stoße ich an äußere Grenzen, wo hält mich auch mein eigenes Standbein zurück? Das darf dann beim nächsten Schritt an die Luft. Muss es auch. Ohne Bewegung staut sich das Blut, das Bein wird dick und schwer.

Leute, schwingt euer Spielbein, denke ich manchmal, macht mal ­einen Schritt raus! Hin zu Menschen, die andere Ansichten und Weltbilder haben. Es ist heutzutage nicht ­allzu schwer, unter Gleichgesinnten zu bleiben. ­Früher begegneten sich Menschen aus unterschiedlichen Milieus in Vereinen oder am Kneipentresen. Da knallten die Meinungen ­aneinander, und nicht selten eskalierte der Streit. Doch alle wussten: Man sieht sich zweimal. Je mehr wir uns über soziale Netzwerke austauschen, umso leichter kann man Andersdenkenden aus dem Weg ­gehen. Niemand muss sich mehr in seinem Weltbild erschüttern lassen, wenn er nicht will. Blockaden bleiben bestehen, die Fronten verhärten sich weiter, der Ton wird rauer.

Worum geht's dem anderen wirklich?

Wer tote Tiere verspeist, der kann auch gleich Menschen schlachten, müssen sich Fleischesserinnen anhören. Veganer wiederum werden als lustfeindliche Moralapos­tel abgestempelt. Mütter und Väter, die sich zwischen Beruf und Familie aufreiben, sehen in Vollzeit­erziehenden schnell Helikoptereltern oder Latte-­macchiato-Mütter. Und die ­schießen scharf zurück: "Ich frage mich, warum man Kinder kriegt, wenn einem die Karriere wichtiger ist?" Schulmedizin oder Homöopathie? Für oder gegen strengere Corona-­Schutzmaßnahmen? Unsere Welt ist voller gegensätzlicher Positionen, und viele hüben wie drüben suggerieren: Es gibt nur ein Entweder-oder. Da ist keine Bewegung, kein Spiel.

Unsere Demokratie beruht allerdings darauf, dass sich Politiker:innen und auch die Wähler:innen mit anderen Meinungen auseinandersetzen und zu Kompromissen bereit sind. Das ist nicht einfach. Und manchmal ist man ja auch wirklich müde, sich eine andere Meinung anzuhören.

Auch hier könnte die Frage meines Vaters Blockaden aufbrechen helfen: Worum geht’s der anderen Person wirklich? Was hat sie, was hat ihn geprägt? Welche Erfahrungen hat jemand gemacht, dass er zu dieser oder jener Haltung kommt? Aus Feinden werden auch dadurch nicht zwangsläufig Freunde, aber erst einmal nach dem Warum zu fragen, kann eine Möglichkeit sein, um wieder ins Gespräch zu kommen.

Den Raum dehnen

Wie viel Ordnung, wie viele Regeln und Traditionen braucht es, um eine Gesellschaft zusammenzuhalten? Wie viel Freiheit ist möglich? Darum ringen alle Gemeinschaften, seit ­jeher. In autokratischen Gesell­schaften begrenzen die Herrschenden den Spielraum des Einzelnen auf ein Minimum. Manche Menschen lassen sich nicht entmutigen und nutzen kreativ und oft unter Lebensgefahr den kleinen Spielraum, der ihnen bleibt.

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"Wir haben zwischen den Zeilen gespielt, und die Zuschauer haben zwischen den Zeilen gehört, dafür waren die DDR-Bürger hoch sensibilisiert", sagt Kabarettist Hans-Günther Pölitz, der 1996 die "Magdeburger Zwickmühle" gegründet hat. "Junge Dornen", "Herkuleskeule", "Zange", "Kugelblitze" – die Namen seiner DDR-Spielstätten zeugen von immer neuen Strategien und Versuchen, den Raum zu dehnen.

In demokratischen Gesell­schaften kann und sollte man offen über Spielräume verhandeln. Gesetze sind menschengemacht und müssen immer wieder daraufhin überprüft werden, ob sie ihren Zweck erfüllen. Ob sie das Zusammenleben so regeln, dass wir friedlich miteinander leben können. Nicht alles ist verhandelbar. Wo Menschen und Minderheiten bedroht sind, müssen Grenzen gezogen werden.

Nicht alles herausholen, was geht

Streitfall Kirchenasyl: In Deutschland beherbergen zurzeit 295 evangelische und katholische Kirchen­gemeinden Asylsuchende, denen die Abschiebung droht. Dadurch ver­suchen die Kirchen, Zeit zu ­gewinnen, um jeden einzelnen Fall noch einmal sorgfältig zu prüfen. Die Gemeinden berufen sich auf eine lange Tradi­tion und das christliche Gebot, Not­leidenden beizustehen.

Aber: Die Kirche ist kein rechtsfreier Raum. Staatsbeamte dürfen auch hier "zugreifen", sie dürfen die Geflüchteten aus dem Gemeindehaus abholen und zur Abschiebung an den Flughafen fahren. Sie tun es aber in der Regel nicht, weil sich Staat und Kirche 2015 geeinigt haben. Der Staat toleriert grundsätzlich das Kirchen­asyl. Die Pfarrer:innen melden dafür jeden Fall und nehmen nur Menschen auf, denen unzumutbare Härte droht. Übersetzt heißt das: Beide Seiten verpflichten sich, ihren Spielraum nicht auszureizen. Ein eher weiches ­Konstrukt, das auch immer wieder gefährdet ist: Manche Gemeinden geben die erforderlichen Infos nicht weiter. Staatsanwälte gehen wegen "Beihilfe zum unerlaubten Aufenthalt" gegen Kirchenleute vor. Aber der ausge­handelte Kompromiss, so zerbrechlich er auch ist, dient der Menschlichkeit.

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Und er zeigt: Spielräume klug zu nutzen, heißt, nicht alles herauszuholen, was geht. Auch nicht im Alltag. Um den Preis für den Dachausbau zu feilschen, obwohl der Handwerker eh wenig verdient. Die Freundin, die nie Nein sagen kann, zum dritten Mal zum Babysitten anzufragen. Das alles geht. Aber wollen wir das wirklich?

Das hat mit Leichtigkeit zu tun

Spielraum im Privaten, das hat auch mit Leichtigkeit und Experimentierfreude zu tun. Mit Fantasie. Das Spielbein bahnt den Weg in den nächs­ten Schritt, den man gehen könnte. Aber nicht muss.

Und wenn ich so gar nicht weiß, wohin? Dann schwebt es eben mal ein bisschen länger in der Luft. Die ­kleine Sally aus der berühmten Comic­serie Peanuts macht das vor: Die Sommerferien haben begonnen, das Ferien­lager steht an. Bruder Charlie Brown ist schon halb an der Straße, Sally steht noch mit Sack und Pack auf der Türschwelle: "Ich weiß nicht, ob ich mitwill . . ." Charlie Brown ruft zurück: "Entscheide dich endlich . . . Der Bus fährt in fünf Minuten." Da setzt Sally das Gepäck ab und sagt nonchalant: "Ich komme in sechs Minuten."

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Als ich den Artikel über „ ein bißchen geht immer“ fiel mir sofort Viktor Frankl ein: Der Mensch hat immer auf Anfrage die Freiheit des Geistes JA oder Nein zu sagen. In der Bibel steht schon in Kor.10.23 – 24 Ähnliches, was Gesellschaften zusammenhält!
Mit ermunterndem Gruß, Inge Reuther