Friedrich Wilhelm Raiffeisen konnte nicht mit ansehen, wie im Hungerwinter 1846/47 mehrere Dutzend Familien in Weyerbusch Not litten, weil sie sich kein Brot mehr leisten konnten. Der 26-jährige Bürgermeister des Dorfes im Westerwald traf eine folgenreiche Entscheidung: Er gründete mit wohlhabenden Leuten den "Weyerbuscher Brodverein".
Der Verein kaufte große Mengen Korn und handelte dafür einen sehr günstigen Preis aus. Der Bürgermeister ließ ein Backhaus bauen, stellte einen Bäckergehilfen ein. Ergebnis: Die gemeindeeigene Bäckerei konnte ihr Brot zur Hälfte des üblichen Preises verkaufen. Verschenkt wurde nichts. Wer nicht bezahlen konnte, unterschrieb einen Schuldschein, mit dem er sich verpflichtete, den Brotkredit bei Gelegenheit auszugleichen. Geldgeschenke, da war sich Raiffeisen sicher, verderben den Charakter.
Als siebtes von neun Kindern hatte Friedrich Wilhelm selbst Armut erfahren. Sein Vater war als Bürgermeister von Hamm (Sieg) entlassen worden, weil er in die Kasse gegriffen hatte. Somit fehlte der Familie das nötige Geld, um den begabten Sohn auf eine – kostenpflichtige – weiterführende Schule zu schicken. Erziehung und Bildung übernahm Patenonkel Georg Wilhelm Seippel, der evangelische Pfarrer von Hamm.
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Mit 17 Jahren wurde Raiffeisen Berufssoldat bei der Preußischen Artillerie in Köln. Sieben Jahre später gab er den Dienst auf. Grund: eine ihn bis zu seinem Tode begleitende Augenkrankheit. So schlug der junge Mann den Weg in die Gemeindeverwaltung ein. Er wollte die Not an den Wurzeln packen, baute eine Schule und neue Straßen. Um auf dem Land gut leben und arbeiten können, erkannte er, mussten Bildungs- und Wirtschaftsstrukturen modernisiert werden. Obwohl seinem Landrat der "Brodverein" überhaupt nicht gefallen hatte, erhielt Raiffeisen 1848 eine größere Bürgermeisterstelle im benachbarten Flammersfeld. Auch dort verfügten die meisten Landwirte und Handwerker nicht über das nötige Geld für ihre Betriebe. Das nutzten "Wucherer", die ihnen zu gewaltigen Zinsen Darlehen anboten. Schon eine Missernte genügte, um die Rückzahlung unmöglich zu machen. Das Eigentum fiel an die Geldgeber.
Friedrich Wilhelm Raiffeisen, Bankier der Barmherzigkeit
Raiffeisens Programm hieß "Hilfe zu Selbsthilfe". Arme Leute sollten nicht beschenkt werden, sondern ihre Ziele selbst erreichen können. In fairen Gemeinschaften. Für den überzeugten Christen Raiffeisen standen diese auf "christlich-sozialistischer" Grundlage. So gründete der Netzwerker im Dezember 1849 mit 60 Bürgern den "Flammersfelder Hülfsverein zur Unterstützung unbemittelter Landwirte". Stimmberechtigte Mitglieder waren Nehmende wie Gebende, die "ehrenamtlich" agierten. Ziel: gemeinsamer, preiswerter Einkauf von Tieren und Rohstoffen und ihre bezahlbare Veräußerung an Mitglieder, wenn nötig mit Darlehen.
So entstand die Grundidee des Genossenschaftswesens: "Einer für alle, alle für einen." Und die nahm Raiffeisen auch an den nächsten Dienstort Heddesdorf mit. Er gründete 1854 den "Heddesdorfer Wohltätigkeitsverein", später in "Darlehnskassen-Verein" umbenannt. 1866 veröffentlichte er das Buch "Die Darlehnskassen-Vereine als Mittel zur Abhilfe der Noth der ländlichen Bevölkerung sowie auch der städtischen Handwerker und Arbeiter", ein Jahr zuvor war er, fast völlig erblindet, in Pension gegangen. Seinem Wirken tat dies keinen Abbruch. Verlassen konnte er sich auf die Hilfe seiner Tochter Amalie, die für ihn schrieb, las und Reisen plante. Bis zu seinem Tode 1888 blieb Raiffeisen dem Projekt verpflichtet.
Mehr als eine Milliarde Menschen sind heute weltweit in Genossenschaften organisiert. Die Grundidee, zu der auch der Preuße Hermann Schulze-Delitzsch (1808–1883) beitrug, zählt seit 2016 zum "Immateriellen Weltkulturerbe der Menschheit" der Unesco.
Eine erste Version dieses Textes erschien am 28.05.2018.
Historische Raiffeisenstraße: Auf der 40 Kilomter langen Strecke zwischen Westerwald und Rhein lässt sich die Geschichte Raiffeisens und seines Genossenschaftswesens nachverfolgen.
Einen guten Überblick erhält man im Raiffeisenhaus Flammersfeld raiffeisenhaus-flammersfeld.de
Lesenswert: Raiffeisens Buch: "Die Darlehnskassen-Vereine als Mittel zur Abhilfe der Not...", überarbeitet und neu herausgegeben von Marvin Brendel (geno I dition)