Die USA liefern Streumunition an die Ukraine. Diese Munition ist wegen ihrer hohen Anzahl von Blindgängern seit 2010 international geächtet. Auch Deutschland hat diesen Vertrag unterschrieben. Warum gibt es jetzt keinen größeren Aufschrei?
Ich finde schon, dass einige sehr deutliche Voten formuliert wurden, die im Speziellen die USA für die Lieferung von Streumunition an die Ukraine kritisiert haben. Ich denke an Stimmen aus der SPD oder der Linkspartei. Die insgesamt verhaltene Reaktion mag damit zusammenhängen, dass die russische Seite schon vielfach Streubomben gegen zivile Ziele eingesetzt hat, wenn man Human Rights Watch und anderen Beobachtern glaubt, während die Ukraine nicht vorhat, zivile russische Ziele mit diesen Streubomben anzugreifen. Im Übrigen ist die Streumunition-Konvention weder von Russland noch von der Ukraine oder den USA ratifiziert worden. Moralisch muss man es problematisieren, aber rein rechtlich kann man nicht sagen, dass gegen irgendetwas verstoßen worden ist.
Sollte Deutschland klarer gegenüber der Ukraine auftreten?
Das denke ich eher nicht. Die deutschen Regierungen haben bis zum Beginn der Ukraine-Invasion jeden, der von russischer Aggressivität gesprochen und die verteidigungspolitische Naivität des Westens namhaft gemacht hat, als paranoid abqualifiziert. Und jetzt soll das Opfer dieser Fehleinschätzung von denen, die falschlagen, gemaßregelt werden? Deutschland selbst hat aufgrund der gegebenen Rechtslage keine Möglichkeit und auch nicht die Absicht, Streubomben an die Ukraine zu liefern. Aber aus dieser Position heraus auf die Ukraine einzuwirken, dass diese die Streumunition nicht einsetzen soll, halte ich für übergriffig, zumal angesichts der offensichtlich gescheiterten deutschen Russlandpolitik der letzten gut 20 Jahre.
Rochus Leonhardt
Britta Kirchner
Ist die Unterstützung der Ukraine mit Streumunition aus evangelischer Sicht vertretbar?
Streumunition gehört zu ziemlich dem Fürchterlichsten, was man sich im Krieg als Waffeneinsatz vorstellen kann, unterhalb der atomaren Eskalation. Insofern ist der Einsatz moralisch grundsätzlich zu ächten. Allerdings ist es nun einmal so, dass sich im Krieg die Kriegsparteien einander angleichen, je länger die Auseinandersetzung dauert; daran hat zuletzt der israelische Militärhistoriker Martin van Creveld erinnert. Das heißt: Wenn die eine Seite bestimmte Waffen einsetzt, die rein militärisch gesehen vergleichsweise effizient sind, wird die andere Seite irgendwann nachziehen, wenn sie kann. Das gehört zur grausamen und traurigen Realität des Krieges. Und diese Realität ist eben leider nicht kompatibel mit den Forderungen und Verheißungen der Bergpredigt.
In Ihrem Buch "Friedensethik in Kriegszeiten", das Sie gemeinsam mit dem Philosophen Volker Gerhardt und dem Theologen Johannes Wischmeyer publiziert haben, ist die Rede von einem "Realismusdruck", dem sich die evangelische Friedensethik beugen müsse. Was meinen Sie damit?
"Gott hat uns in die Welt unter die Herrschaft des Teufels geworfen, so dass wir hier kein Paradies haben." So hat es Martin Luther einmal formuliert. Natürlich ist der Christ grundsätzlich jemand, der mit allen Menschen in Frieden leben möchte. Aber in der Realität leben die Christenmenschen mit vielen Zeitgenossen zusammen, die nicht unbedingt in Frieden leben wollen. Der Realismusdruck ergibt sich aus der unabweisbaren Frage: Wie sollen Christen mit dieser Situation umgehen? Luthers bedenkenswerte Antwort heißt: Christen haben die Aufgabe, sich für eine stabile weltliche Ordnung einzusetzen und diese auch mit weltlichen Mitteln zu verteidigen. Das kann auch heißen: mit Gewalt und militärischen Mitteln. Letzteres ist in der evangelischen Friedensethik in den vergangenen Jahrzehnten ein bisschen aus dem Blick geraten. Darüber denken wir jetzt wieder deutlicher nach.
Pazifisten sehen das etwas anders. Wie tief sind die Gräben zwischen Pazifisten und sagen wir Realisten in der evangelischen Kirche?
Die evangelische Kirche bewegte sich in den letzten Jahren in Fragen der Friedensethik immer mehr in Richtung Pazifismus. Man setzte auf aktiven Gewaltverzicht nach dem Vorbild Jesu. Heute wissen wir: Die Pazifismus-Konjunktur verdankte sich einer politischen Konstellation, die nicht mehr gegeben ist. Die Erwartung, dass es in Europa keine Kriege mehr geben wird, hat sich nicht erfüllt. Die veränderte Lage erfordert neue friedensethische Antworten. Die konkrete Frage lautet jetzt: Darf sich die Ukraine gegen den militärischen Angreifer mit jenen Mitteln wehren, die, soweit wir wissen, Russland gegen die ukrainische Zivilbevölkerung bereits eingesetzt hat? Ich neige dazu, diese konkrete Frage zu bejahen. Was die von Ihnen angesprochenen Differenzen in der evangelischen Kirche angeht: Ich kann die tendenziell pazifistische Auffassung, wie sie etwa Friedrich Kramer, der Friedensbeauftragte der EKD, vertritt, sehr gut nachvollziehen und würde sie gern teilen. Er hat sich aus respektablen Gründen immer gegen Waffenlieferungen an die Ukraine ausgesprochen. Der Vorsitzende der Kammer für Öffentliche Verantwortung der EKD, Reiner Anselm, sieht das erkennbar anders – ebenfalls aus respektablen Gründen. Es gibt also durchaus unterschiedliche Auffassungen in der evangelischen Kirche. Von Gräben würde ich aber deshalb nicht sprechen, weil derzeit viele ergebnisoffene Debatten laufen, in denen, um es mit Luther zu sagen, "die Geister aufeinanderplatzen".
Wo ist die rote Linie bei der Unterstützung der Ukraine mit Waffen?
Wir alle sitzen in unseren Büros und komfortablen Arbeitszimmern und reden über eine Sache, von der wir viel hören und lesen und im Fernsehen manches sehen, die wir aber nicht erleben und deshalb eigentlich gar nicht nachvollziehen können. Wir sind Friedenskinder, und aus dieser Perspektive zu sagen, dies oder jenes ist für mich die rote Linie, das vermag ich nicht. Ich finde, die Ukraine hat das Recht, sich zu verteidigen. Dass sie dabei nun auch Streumunition einsetzen will, ist, wie gesagt, der grausamen und traurigen Realität des Krieges geschuldet, eines Krieges, den die Ukraine bekanntermaßen nicht vom Zaun gebrochen hat.
Ihr Kollege Johannes Wischmeyer schreibt, dass der Angriffskrieg eine Herausforderung für das Handeln der evangelischen Kirche ist. Was soll die Kirche tun?
Die Kirche kann im Grunde genommen relativ wenig "handeln". Sie sollte immer wieder zum Frieden und zur Verhältnismäßigkeit aufrufen. Sie kann auch zum Gebet für den Frieden ermuntern. Sie sollte vor allem versuchen, innerhalb der Gemeinden und innerhalb der Gesellschaft die unterschiedlichen Perspektiven auf den Ukraine-Krieg miteinander im Gespräch zu halten und sich nicht allzu dezidiert auf eine bestimmte Position festzulegen und dann zu behaupten, diese Position sei die einzig christliche. Das wäre anmaßend.
Würden Sie sich wünschen, dass die Kirche lauter wird?
Laut zu werden bedeutet nicht, dass dadurch die Relevanz größer wird. Die Frage ist, ob die Kirche, mit dem, was von ihr kommt, die Menschen abholt und überzeugt. Ich glaube aber nicht, dass es jetzt erfolgversprechend wäre, laut zu werden, denn es ist ja immer nur eine Stimme, die laut werden kann. Die Stärke der evangelischen Kirche ist aber ihre Vielstimmigkeit. Diese Vielstimmigkeit muss allerdings auch gesamtgesellschaftlich als etwas Positives wahrgenommen werden. Das ist in Zeiten, in denen stark polarisiert wird, nicht so einfach.
Lesetipp: Volker Gerhardt, Rochus Leonhardt, Johannes Wischmeyer: Friedensethik in Kriegszeiten. 184 Seiten, Evangelische Verlagsanstalt 2023, 24 Euro.