Die E-Mail mit der Absage kam am Montagmorgen um kurz nach sieben. Der Landtagsabgeordnete Marco Voge ist krank geworden. Das Pressegespräch im Rathaus fällt aus. Vor Stefan Aschauer stehen vier Bildschirme. Er blickt auf den rechten, der ihm sein Postfach anzeigt, verschränkt die Hände über dem Kopf und streckt sich. Noch ist er allein in der Redaktion. Aber jeder Kollege, der den Chef dort so sitzen sähe, wüsste, was er gerade denkt: Einen guten Redakteur verlässt der liebe Gott nie. Es werden andere Geschichten kommen und die Lokalseiten füllen. Weil immer was passiert.
Stefan Aschauer, 55 Jahre alt, ist Chef vom Dienst und Lokalredakteur beim „Süderländer Tageblatt“ in Plettenberg, Sauerland, Nordrhein-Westfalen. Er findet, dass es zwei Sorten von Journalisten gibt: Die einen planen sklavisch, was der Tag ihnen zu bringen habe. Die anderen gucken, was aus einer Spur wird, die sie aufgenommen haben. Er streift Kopfhörer über seine hohe Stirn und die kurzen dunklen Haare und sieht damit aus wie ein Pilot, weil vor seinem Mund ein Mikrofon hängt. Aschauers Finger trommeln auf der Schreibtischplatte, bis jemand abhebt. Mit fester Stimme sagt er: „Stefan Aschauer, ,Süderländer‘, Herr Wilmink, ich rufe an wegen der Bürgermeisterkette von Leipzig!“ Er hört eine Weile zu, dann unterbricht er. „Das interessiert mich alles sehr, aber bitte nicht am Telefon, ich würde Ihnen gern in die Augen sehen.“ Herr Wilmink sagt zu, will morgen um zehn Uhr kommen.
Draußen schwillt der Klang von Martinshörnern zu einem Getöse an. „Sind das deine Jungs vom Wall, Feli?“, fragt Stefan Aschauer. Der Chef steht auf, hält ein Ohr Richtung Tür und beantwortet die Frage gleich selbst. „Ja, sind sie, ich höre den schweren Diesel.“ Felicitas Hochstein ruft in der Wache an. „Könnte interessant sein, ein Rollstuhlfahrer ist in die Oestertalsperre gefallen.“
Ein Unglück! So was wollen die Leute lesen
Felicitas Hochstein macht Fotos und fährt zurück in die Redaktion. Nach ein paar Minuten hat sie die Bilder von der Unfallstelle auf ihrem Rechner hochgeladen. Stefan Aschauer sieht ihr über die Schulter. Da hat eine 90 Jahre alte Frau gerade etwas Fürchterliches erlebt, aber die Laune in der Redaktion steigt – Berufskrankheit. Die Fotos sind gut, die Geschichte auch. Felicitas Hochstein fängt sofort an zu schreiben. Ein Unglück! So was wollen die Leute lesen.
Dass die Menschen Zeitung lesen wollen, ist längst nicht mehr selbstverständlich. Auch beim „Süderländer Tageblatt“ merken sie, dass sich etwas verändert. 26 00 Einwohner hat Plettenberg, eine Stadt, die sich über vier Täler verteilt. Die Auflage hält sich seit Jahren bei mehr als 5000 Exemplaren. Nur ganz selten bestellten mehr Leute die Zeitung ab, als Leser fortzogen oder wegstarben. Aber neue kommen kaum dazu. Die Jungen lesen lieber im Internet. Und es gibt Straßen in der Stadt, in der fast nur Russlanddeutsche oder Menschen mit türkischen Wurzeln leben. Und die gucken lieber russisches und türkisches Fernsehen als die Lokalzeitung zu abonnieren.
Aschauer glaubt, dass das für die Zukunft der Gemeinde nichts Gutes verheißt. Er denkt da an dieses Paar, das letztes Jahr in der Silvesternacht nach Hause wollte. Sie hatten sich ein Taxi bestellt. Es war kalt, also warteten sie im Gasthof. Als das Taxi kam, stieg einfach jemand anderes ein. Der Fahrer konnte nicht wissen, dass er den falschen Gast beförderte. Die Frau war so wütend, dass sie noch nachts eine Tirade auf ihre Facebookseite schrieb. Was das denn für ein Taxiunternehmen sei! Als sie am Neujahrstag aufstand, hatte sich ein Shitstorm daraus entwickelt, ein Sturm der Entrüstung.
Trotzdem kann sich Stefan Aschauer in Themen verbeißen, diese Hartnäckigkeit hat ihn überhaupt erst zum Journalismus gebracht. Als Junge war er verrückt nach Zügen und der Eisenbahn. Mit 15 lebte er noch im Bergischen Land und entdeckte in der Zeitung einen Fehler in einem Artikel über Straßenbahnen. Er marschierte in die Redaktionsräume des „Remscheider General-Anzeigers“.
„Da ist was falsch!“
„Dann mach es besser!“, sagte der Redakteur, der den Beitrag geschrieben hatte.
Aschauer wurde freier Mitarbeiter. Und nach dem Abitur Volontär.
Die Eisenbahn ist immer ein Thema für ihn geblieben, auf schicksalhafte Weise. In der Nacht auf den 5. Dezember 1991 rissen ein Knall und Sirenengeheul die Menschen in Plettenberg aus dem Schlaf. Im Ortsteil Ohle war ein Güterzug auf Waggons geprallt, die auf dem Gleis gestanden hatten. Aschauer fuhr zur Unglücksstelle und hörte die Schreie des sterbenden Lokführers. Sie wurden immer leiser. Die Feuerwehr konnte ihm nicht helfen, weil sich bei der Bahn nachts niemand fand, der die herabhängende Stromleitung hätte erden können.
Manchmal muntert Aschauer seine Truppe mit einem Spruch auf: „Ihr wisst ja, ich bin so doof, dass mich die Schweine beißen.“ Das hat ihm mal ein Gastwirt mit auf den Weg gegeben. Lange her, der Mann ist schon tot, aber die Geschichte kostete Aschauer Nerven. Er war damals neu beim „Süderländer“, zuständig für die Nachbargemeinde Herscheid. Dort gab es eine verfallende Gaststätte, das Neuenhaus. Viele Herscheider Honoratioren störten sich daran. Mieter mit fragwürdigem Ruf kamen und gingen; ein Bordellbetreiber war auch dabei. Im Hinterzimmer bereiteten Bürgermeister und Bauausschuss einen Beschluss vor: Die Gemeinde kauft das Neuenhaus und reißt es ab. Stefan Aschauer hörte davon, schrieb darüber. Zum Ärger eines Gastwirts, der darauf gehofft hatte, dass nie mehr ein Konkurrent in das alte Gebäude ziehen würde. „Der Aschauer ist so doof, dass ihn die Schweine beißen“, raunte er in einer öffentlichen Ratssitzung.
Jonas Ludwig Walter
Nils Husmann
„Soll ich den Weyland mal fragen, wie er heute darüber denkt?“, fragt der Lokalchef. Der Weyland, das war damals der Bürgermeister. Aschauer ruft den Redakteur, der heute für Herscheid zuständig ist. „Dirk, mach doch mal eine Geschichte, wie der Weyland das damals alles eingeschätzt hat.“ Lokaljournalisten müssen pragmatisch denken – die Seiten müssen ja voll werden.
In der Nacht ist Nebel aufgezogen im Sauerland, aber die Herbstsonne durchlöchert ihn. Das Neuenhaus glänzt in hellem Licht. Neben der Tür ist eine Denkmalplakette angebracht. In einer Straße oberhalb des Neuenhauses wohnt Wolfgang Weyland. Er ist ein großer Mann, streng sieht er aus. Im Ort nennen sie ihn Mr. Herscheid, weil er viele Ämter innehatte, Bürgermeister, Vorsitzender des Schützenvereins, Vorsitzender der CDU-Ortsgruppe. „Das mit dem Neuenhaus hat mich mächtig geärgert“, sagt Weyland. Aber das sei lange her, er wisse gar nicht, ob er die Geschichte noch zusammenbekomme. Aber je mehr Dirk Grein fragt, desto lebendiger werden Weylands Schilderungen. Nach Aschauers Berichten war damals kaum jemand im Ort noch für den Abriss des Neuenhauses. Ein Minister in Düsseldorf entschied, dass das Gebäude unter Denkmalschutz kommt. Die Wohnungsgesellschaft sanierte es und vermietet Wohnungen – bis heute.
Ein guter Lokalreporter muss rauskriegen, was los ist
In der Herscheider Gaststätte hatte Aschauer eine Zeit lang Hausverbot. Aber dann erschienen keine Berichte mehr über die Vereine im Ort, die dort tagten. Also hob der Wirt das Hausverbot auf, weigerte sich aber, Stefan Aschauer zu bedienen – bis der eines Tages seine eigene Coladose mitbrachte. Wolfgang Weyland muss lachen. „Ich hab ihn auch mal angerufen und ihm derbe die Meinung gesagt.“ Also laut? „Ja. Aber wir haben immer wieder das Wort gefunden. Ein guter Lokalreporter muss dahinter sein und rauskriegen, was los ist.“
Zurück in Plettenberg. Es ist zehn Uhr geworden, Rolf Wilmink kommt zu Besuch. Er ist Oberst in der Plettenberger Schützengesellschaft, wie es schon sein Vater war. Und er ist Detektiv, betreibt ein Sicherheitsunternehmen mit 75 Mitarbeitern. Vor ein paar Tagen bekam Stefan Aschauer eine E-Mail. Er hat sich bei Google News einen Alarm eingerichtet: Wenn Google eine Meldung erfasst, in der das Wort „Plettenberg“ vorkommt, wird Aschauer benachrichtigt. So erfuhr er, dass eine Leipziger Oberbürgermeisterkette aus der Nazizeit in den USA auf einer Internetseite zum Kauf angeboten wurde. In Sachsen sorgte das für viele Schlagzeilen. Und entdeckt hatte die Kette – Rolf Wilmink aus Plettenberg. Eine tolle Lokalgeschichte!
Stefan Aschauer führt seinen Gast in den Besprechungsraum der Redaktion. Auch „Milla“, Aschauers Frau Camilla Hundt, kommt dazu. Das macht sie oft, wenn eine Geschichte spannend zu werden verspricht. Sie muss nur eine Treppe runterkommen, das Paar wohnt über den Redaktionsräumen. „Was macht ein Detektiv nachts, wenn er nichts zu tun hat?“, setzt Stefan Aschauer an, als wolle er eine Scherzfrage stellen. Rolf Wilmink fällt ihm ins Wort. „Er findet alte Bürgermeisterketten!“ Und dann erzählt der Detektiv, über eine Stunde lang. Um Leipzig geht es schnell nicht mehr. Die Kette war ein Zufallsfund. Seit Jahrzehnten sucht Wilmink nach einer Fahne des Schützenvereins. Soldaten der 75. US-Division, die 1945, zum Ende des Zweiten Weltkrieges, das Sauerland besetzten, hatten sie als Souvenir mit nach Amerika genommen.
Nun wird klar, warum Aschauer der Geschichte nicht am Telefon auf den Grund gehen wollte. Mit den Augen sollte der Detektiv reden. Und das tut Wilmink, seine Augen leuchten, seine Hände unterstreichen die vielen Anekdoten, die er auf Lager hat. Einmal ist er in die USA zu einem Veteranentreffen der 75. Division geflogen, um die Soldaten von damals nach der Fahne zu fragen. Nie fand er eine heiße Spur. Aber er kam in Kontakt zu Militariahändlern, die Kriegsbeute im Internet feilbieten. Und deren Seiten durchsucht er, immer wieder, weil er hofft, die Fahne der Schützengesellschaft zu finden. „1843 gefertigt und von Königin Elisabeth von Preußen gestiftet!“
„Wo ist denn der emotionale Antrieb bei der Sache, Herr Wilmink? Es ist ja am Ende nur eine Fahne!“, fragt Aschauer. Milla, seine Frau, knufft ihn in die Seite. „Mein Gott, irgendeine Schramme muss der Menschen doch haben!“
„Genau“, sagt Wilmink, „ich hab auch schon von Leuten gehört, bei denen das die Eisenbahn ist.“
Stefan Aschauer lacht. Auch über den Scherz, mit dem der Detektiv ihn durchschaut hat, klar. Aber er kann sich diebisch freuen über das, was er da gerade geschafft hat. Im kleinen Besprechungsraum der Lokalzeitung, die sie in Plettenberg stolz Heimatzeitung nennen, hat er einen kleinen Funken aus der Weltgeschichte geschlagen. Und diesen Funken kann er weiter bearbeiten, damit seine Leser am nächsten Tag davon lesen können! Freundlich, aber rasch verabschiedet Aschauer seinen Gast, geht zurück an seinen Schreibtisch und fängt an zu schreiben.
Heute muss er nicht. Heute darf er.
Die Auflage sinkt
In Deutschland erscheinen 327 Tageszeitungen. Die meisten, nämlich 312, sind regionale und lokale Abozeitungen wie der „General-Anzeiger“ aus Bonn oder die „Kieler Nachrichten“. Zu ihnen gehören wiederum verschiedene Lokalredaktionen. 2017 erreichen die regionalen und lokalen Abozeitungen eine Auflage von fast 11,5 Millionen Exemplaren – 1995 gab es noch über 350 Regional- und Lokalzeitungen mit einer Auflage von über 18 Millionen Exemplaren. Berthold Flöper, Leiter des Lokaljournalistenprogrammes der Bundeszentrale für politische Bildung, bedauert diese Entwicklung: „Lokaljournalismus war nie wichtiger als heute. In Zeiten von ,Fake News‘ und ,Lügenpresse‘-Vorwürfen ist er ein Garant für Wahrheit und Verlässlichkeit. Ohne diejenigen, die das lokale Gespräch moderieren, stirbt die Demokratie vor Ort.“ Flöper sieht aber auch Gründe für Optimismus. Das Internet mache experimentierfreudig. Und: „Junge Leser sind nicht für immer verloren, in Befragungen billigen sie Lokalzeitungen sogar eine große Realitätsnähe, Vertrauenswürdigkeit und Glaubwürdigkeit zu.“
Schreiben, damit sich was ändert
Gratulation an Nils Husmann für den Artikel "Schreiben, damit sich was ändert". Er hat die Atmosphäre in einer Lokalredaktion und den Antrieb und die Skurrilitäten von Lokaljournalisten sehr schön getroffen. Außerdem ist der Text gut geschrieben, teilweise sogar amüsant zu lesen.
Viele Grüße!
Thomas Dobler
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Schönster Job der Welt, aber...
Hm, schönes, verklärendes Stück über den Lokaljournalismus. Der Job ist der schönste der Welt - ich weiß, wovon ich spreche. Aber in einer Reportage über den Lokaljournalismus die gravierendsten Branchenprobleme nicht zu erwähnen, ist schon fast fahrlässig. Zum Beispiel: Schlechte Bezahlung von freien Mitarbeitern und jungen Angestellten, schlechte Übernahmechancen von Volontären und immer schlechtere Sozialleistungen. So bleibt das Ding ein preiswürdiges Werbestück für den Verlegerverband. Viel Erfolg!
VG Tom
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