Die Kollegen der Hilfsorganisation im Ort klären mich später auf: Der morgendliche Wechselgesang sei neu. Früher habe mal der eine, mal der andere die Kassetten angeschmissen, heute sei es wie ein Wettbewerb. Seit dreißig Jahren ist die Partnerorganisation von Brot für die Welt in der bitterarmen Region tätig und kämpft für eine Verbesserung der Lebensverhältnisse in den oft winzigen Dörfern. Jetzt macht man sich hier große Sorgen. Noch geht es nur um Musik. Weitaus schlimmere Szenarien seien jedoch sehr wohl denkbar.
Indien hat gewählt und mit überwältigender Mehrheit den 63jährigen Hindu-Nationalisten Narendra Modi ins Amt des Premierministers katapultiert. Noch vor wenigen Jahren hat ihm die US-Regierung ein Visa für die Einreise verweigert. Als Ministerpräsident des in Nordindien liegenden Bundesstaates Gujarat gilt er vielen als mitverantwortlich für ein Massaker an Muslimen im Jahr 2002. Nun ist er demokratisch gewählter Ministerpräsident des wichtigsten Schwellenlandes der Welt: Die Einladung aus Washington kam am Tag nach der Wahl.
Bleibt es bei einem musikalischen Wettstreit unter Gottesdienstrufern?
Drei Wochen lang bin ich von Süd nach Nord durch Indien gereist und habe indische Partnerprojekte von Brot für die Welt besucht. Darunter waren Christen, Muslime und Hindus, Atheisten, Bauern, Politiker, Journalisten, Studenten. So unterschiedlich sie waren, dachten und lebten - eines einte sie alle: Diese Wahl, so hörte ich immer wieder, sei für ihr Land das wichtigste Ereignis seit der Unabhängigkeit 1949. Wird der Hindu-Nationalist Modi das Land spalten oder die fragile Einheit aufs Spiel setzen? Welche Rolle wird die Religion spielen, in einem Land, das sich qua Verfassung als säkular bezeichnet? Gewählt wurde Modi von der städtischen Mittelschicht. Die ist stark, aber längst nicht die einzige Stimme. Wer hier anfängt, zu polarisieren, der spielt mit dem Feuer. Ich hoffe von ganzem Herzen, dass die religiöse Konkurrenz in dem Dorf bei Bangalore auch künftig nur auf musikalischer Ebene ausgetragen wird.