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Seit über zwei Jahren wiederhole ich hier in der Wohnlage mantramäßig: Hört auf mit dem Abriss. Nun stelle ich dich und deinen Abrisskalender vor. Ein Widerspruch?
Turit Fröbe: Auf den ersten Blick – ja. Dahinter steht was Anderes: Ich finde Bausünden total interessant und habe festgestellt, dass es sich lohnt, hinzusehen. Mit dem Kalender gebe ich den Bausünden-Hassern die Möglichkeit, Tag für Tag ein "hässliches Entlein" abzureißen. Dadurch, dass ein Jahr lang diese Häuser vor der Nase hängen, ermögliche ich ihnen, ihren Blick auf angebliche Bausünden zu schärfen. Ich bin der festen Überzeugung, wenn wir einmal anfangen, so eine Bausünde mit anderen Augen zu sehen, dann entdecken wir erst ihren richtigen Wert.
So hast du das aber nicht immer gesehen?
Als ich vor 25 Jahren anfing, "Bausünden" fotografisch zu sammeln, fand ich die scheußlich. Durch die Beschäftigung mit ihnen habe ich schnell festgestellt, dass Bausünden mit einem Mal eine ganz ureigene Schönheit und einen ganz eigenwilligen Charme bekommen, der vorher nicht da war.
Aber Abriss-Kalender – das ist schon eindeutig, zudem die meisten Bilder da, zumindest aus meiner Sicht, architektonische Scheußlichkeiten zeigen.
Eine Bausünde entsteht erst im Auge des Betrachters. Bausünden bauen immer nur die anderen. Aber ich liebe auch das Wortspiel Abreißkalender - Abrisskalender. Ich weiß aus vielen Rückmeldungen auf den Kalender, dass schon das Ansehen und Draufgucken auf diese Fotos den Blick verändern.
Turit Fröbe
In der Psychotherapie kennt man das als "paradoxe Intervention". Du zeigst hässliche Fotos und willst, dass die Leute diese Bauten lieben?
Ja, tatsächlich hat meine Arbeit viel mit Psychologie zu tun…
Du bist Architekturhistorikerin, Urbanistin, arbeitest seit Jahren frei als Baukulturvermittlerin und setzt mit Vorliebe in der Alltagsumgebung der Menschen an. Warum ausgerechnet dort?
Nirgendwo sonst sind die Menschen so blind wie in ihrer Alltagsumgebung. Wir nehmen so gut wie nichts von dem wahr, was uns täglich umgibt. Wir fokussieren uns auf Eyecatcher - auf Landmarkarchitektur und auch auf Bausünden- und auf Unbekanntes.
Du hast ein Büro, die "Stadtdenkerei". Was genau bietest du den Städten an?
Wir versuchen, Städte, alternative Stadtteile oder auch kleinere Planungsareale aufzuwerten, indem wir ausschließlich die Wahrnehmung der Bürgerinnen und Bürger verändern. Das machen wir, indem wir die Menschen vor Ort entdecken lassen, was sie im Alltag übersehen, für nicht betrachtenswert oder selbstverständlich halten.
Ist das nicht Schönrederei?
Schönreden wäre es, wenn wir uns hinstellen würden und versuchen würden, die Menschen zu überzeugen. Aber ich lasse sie das ja selbst entdecken. Das macht es auch nachhaltiger, das eigene Erleben bleibt.
Wie macht ihr das genau?
Wir versetzen sie in eine Situation, wie wir sie alle von Städtereisen kennen - da sind wir neugierig und offen, haben einen Blick für das Große und Ganze, aber auch für kleine Details. Man sieht sich Dinge an, die man sich zu Hause nie ansehen würde. Und in den Zustand versetzen wir die Menschen in ihrer Alltagsumgebung – wir schaffen mithilfe spielerischer Strategien Situationen, in denen die Menschen sich ihre Alltagsumgebung mit einem Mal ansehen, als hätten sie sie noch nie gesehen. Und dann stellen sie fest: ‚Ups, ich laufe hier seit vielen Jahren oder vielleicht sogar schon seit Jahrzehnten vorbei und habe es noch nie bemerkt.‘ Dadurch entsteht erst mal fast ein Schock, eine gewisse Euphorie, und auf dieser Euphoriewelle reite ich und kann die Leute begeistern.
Das gilt auch für Bausünden?
Ja, ich lasse mir im Rahmen von Stadtspaziergängen auch die "schönsten Bausünden" zeigen. Die Leute regen sich erst mal auf und leiden, wenn man ihnen den Raum gibt, unter den "hässlichen Entlein" ihrer Städte. Ich stifte dann ein bisschen Verwirrung und schlage ihnen vor, dass wir spielen könnten, dass uns das Gebäude gefällt.
Und die spielen mit?
Ja, beim Spielen riskiert man nichts. Jeder denkt, dass nach dem Spiel alles wieder so hässlich sein kann wie vorher. Ich aber weiß, dass das in dem Fall nicht so sein wird, weil Hinsehen hilft. So kommt es, dass die Leute in der Regel nach 90 Minuten Stadtspaziergang mit mir zumindest versöhnt sind mit ihren Bausünden – manchmal sind sie sogar ganz stolz darauf.
Das ist ja eine schöne Botschaft für die jeweils Regierenden: Die Menschen ihrer Stadt müssen das hässliche Parkhaus oder den Betonplatz ohne Bäume einfach anders wahrnehmen, dann hört das Gemecker auf…
Unser Architekturgeschmack ist launisch – wir mögen in der Regel nach spätestens 25 Jahren nicht mehr, was uns vielleicht sogar mal sehr gut gefallen hat. In diesen Fällen reicht ein liebevoller Blick oft aus. In anderen Fällen kann es durchaus sinnvoll sein, kleine Eingriffe vorzunehmen – da lohnt es sich aber, im Vorfeld genau hinzuschauen, wo Eingriffe notwendig sind.
Um ein Beispiel zu geben: Wir sind von der Stadt Flensburg beauftragt worden, ein Projekt an der Hafenspitze durchzuführen. Wer den Ort kennt, weiß, dass er wildromantisch und wunderschön am Rande der Altstadt liegt, aber von ihr abgeschnitten ist und in keinerlei räumlich wahrnehmbare Verbindung steht. Anstatt aber den ganzen Platz infrage zu stellen, haben wir uns in kleinen Schritten herangetastet und versucht herauszufinden, was genau stört und was vielleicht sogar sehr gut funktioniert und unbedingt erhalten bleiben sollte.
Und habt ihr herausgefunden, woran es lag?
Es stellte sich heraus, dass eigentlich nur der Bodenbelag problematisch war. Die Hafenspitze ist mit einem ganz feinen Kieselsand bedeckt, weil dort auch Jahrmärkte stattfinden und Karussells und Buden aufgebaut werden können müssen. Da es in Flensburg jedoch an 200 Tagen im Jahr sehr windig ist, steht man regelmäßig im Sandsturm, was natürlich unangenehm ist und die Leute stört. Ansonsten aber haben wir festgestellt, dass die Gesamtanlage sehr gut funktioniert.
Gerade bist du in der Planung einer Online-Akademie für baukulturelle Bildung. Was wird das sein?
Wir bieten Selbstlernkurse an, die sich an Lehrkräfte, Pädagogen, Akteure aus der Planung, Politik und Verwaltung, aber auch an Eltern und eigentlich alle, die sich für Architektur und Städtebau interessieren.
Noch einmal zurück zum Kalender. Wieso ist das eigentlich erlaubt, Bilder von Privathäusern so zu veröffentlichen?
Alles, was öffentlich einsehbar ist, darf ich fotografieren. Allerdings darf ich nie die Einfahrt oder den Garten betreten. Ich muss auf dem Bürgersteig bleiben.
Hat sich nie jemand beschwert?
Nein, beschwert hat sich niemand. Eher im Gegenteil – einmal hat mir ein Hausbesitzer geschrieben, dass er jetzt zum ersten Mal durch meine Beschreibung seiner Bauarbeiten am Haus verstanden hat, was er da eigentlich vier Jahre lang gemacht hatte.
Und – wie hattest du das Haus beschrieben?
Bayerischer Barock meets 1001 Nacht.



