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Im November ist es dann meist soweit: Endgültig wird es draußen regelhaft ungemütlich, die Tage werden kurz, die Sommerreifen werden eingelagert. Man zieht sich zurück, nach drinnen. Das tun auch diese drei Alben. Zwei von ihnen haben sogar Innenräume auf dem Cover. Sie schauen nach innen, betreiben Introspektion – und das ganz unterschiedlich.
Zum Grübeln
Das neue Album des Chicagoer Duos Whitney tut dies auf besonders berückende Weise: Abermals strahlt hier der sich stetig weiterentwickelnde und doch seinem Trademark-Sound treu bleibende funkelnde Wintersonnenpop dieser Formation. Sänger Julien Ehrlich lässt seine Stimme im Falsett klingen, dazu gibt es perlende Gitarren, Piano oder Orgel, Bläser und vieles mehr von seinem musikalischen Partner, Freund und Langzeit-Mitbewohner Max Kakacek und diversen Mitstreitern.
Und es gibt Melodien. Melodien, die immer irgendwie einen Ausgang finden, wenn die Traurigkeit oder das Grübeln überhand zu nehmen scheinen. Denn nicht nur die Atmosphäre in den Songs der beiden ist immer irgendwie verhalten oder nachdenklich grundiert, auch die Texte beschäftigen sich mit dem Innenleben: es geht um Abschiede, Neurosen oder Fernbeziehungen.
Um dafür genug Raum zu haben, beschlossen die beiden, bei "Small Talk" erstmals ohne Produzenten zu arbeiten. Sie schafften ihre Instrumente und Technik in eine Scheune in Newberg, Oregon, eine kleine Stadt nahe den bewaldeten Ufern des Willamette River. Dort verschanzten sie sich für drei Wochen und bekamen nur Besuch von Freunden, die verschiedene Parts zu den Aufnahmen beisteuerten. Und tatsächlich gelang ihnen bei ihrem nunmehr vierten Album auf diese Weise, so etwas wie den flüssigen Kern ihrer Bandchemie zu finden und in Stücke zu gießen. Musik wie eine flüchtige und doch so vertraute Geste.
Album "Small Talk" bei Spotify anhören
Mitreisen ins Innere
Der Schwede Christian Kjellvander ging noch einen Schritt weiter, was den Aufnahmeprozess betrifft und schloss sich für die Aufnahmen zu seinem neuen Album in einem alten Sommerhaus am Meer ganz im Süden seines Heimatlands ein.
Man hört regelrecht den Raum, das Knarren der Dielen und die Stille. Bei ihm ist es seine tiefe, raumgreifende Baritonstimme, die den Sound seiner Songs dominiert und trägt, die aus seinem tiefsten Inneren zu kommen scheint und nicht bloß von den Stimmbändern geformt wird. Das andere Element ist seine E-Gitarre, die er wie eine zusätzliche Erzählstimme einsetzt, oft als einzige weitere Komponente.
Wer die beiden - Kjellvander und seine Gitarre - schon einmal zusammen live gesehen hat, kann gewiss bestätigen, dass sie optisch zwar nur einen kleinen Fleck in einem Lichtkegel auf der Bühne ausfüllen, akustisch aber überall im Raum zu sein scheinen, egal wie groß dieser ist. Auf "Ex Voto / The Silent Love" ist dieselbe raumgreifende Intimität zu spüren, wenn sich der schlaksige Mann mit dem schütteren Haar durch die erhebenden, schmerzhaften und konfliktreichen, die stillen und stürmischen Momente der Liebe quält, genießt und lebt.
Hier begleiten ihn Bürstenschlagzeug, Bassklarinette, Kornett, Rhodes, Synthesizer und weibliche Vocals. Trotzdem hat man das Gefühl, alleine in Christian Kjellvanders Innenleben einzutauchen und dort auf einer spirituellen Reise mit ihm unterwegs zu sein. Wie in einer langen Nacht, die man gemeinsam durchwacht, den Blick auf das Meer gerichtet.
Album "Ex Voto / The Silent Love" bei Spotify anhören
Auf der Suche nach Identität
KeiyaA stammt, wie Whitney, aus der "Windy City" Chicago. Persönlich hat sie besonders stürmische Zeiten hinter sich – Krisen und eine Phase tiefer Depression. Dabei hatte sie gerade zuvor mit ihrem Debütalbum international Anerkennung gefunden und Erfolge gefeiert. 2020 wurde es von Pitchfork als "Best New Music" ausgezeichnet und in Jahresbestenlisten von The New York Times, NPR, Rolling Stone und The Guardian geführt.
Aus diesem Spannungsfeld zwischen Anerkennung und Verzweiflung erschuf KeiyaA nun ihr nächstes Werk, "hooke’s law". Ein äußerst vielseitiges und dabei gleichzeitig kompromissloses Werk, das sich auf die Suche nach den Facetten von Identität macht. Das Mittel dazu: Verstörend tiefgehende Selbstbefragungen. Und die Form: Experimentell verwobene Schichten von schimmernden Jazz-Harmonien, Synth-Electro, nervösen Beats und warm-weichem R&B.
Zusammen eine oft schmerzhafte Innenschau, an deren Ende die Akzeptanz des Unvollkommenen, die Annahme des (wieder-)aufgebauten Selbst steht. Was wiederum Widerstandskraft ermöglicht in einer Umwelt, die schwarze queere Frauen entweder unsichtbar macht oder diskriminiert, meist beides. Der Weg nach innen als Voraussetzung, draußen zu bestehen.
Album "hooke’s law" bei Spotify anhören
Drei November-Alben also, die sich auf jeden Fall empfehlen, drinnen gehört zu werden, mit Zeit und Kopfhörer!
Whitney: Small Talk. AWAL Recordings
Christian Kjellvander: Ex Voto / The Silent Love. Tapete Records
keiyaA: hooke’s law. XL Recordings



