Um zwei Uhr morgens schlägt die Bombe ein: In Charkiw, einer Stadt im Osten der Ukraine, heulen die Sirenen, Flammen schlagen aus dem Dach des Barabashovo-Marktes und fressen sich durch die Lagerräume. Die Luft riecht nach verbranntem Kunststoff, das Löschwasser ist schwarz gefärbt durch die Asche, die als feiner Regen von der Decke rieselt. Glassplitter knirschen unter schweren Stiefelsohlen, Männer in Uniform brüllen gegen das Fauchen der Flammen an. Nils Thal steht in einer schusssicheren Weste und einem Helm vor der Markthalle, löscht das Feuer und hofft, dass keine zweite Bombe neben ihm einschlägt.
Eigentlich ist Nils Thal Feuerwehrbeamter bei der Stadt Nürnberg – seit rund dreieinhalb Jahren arbeitet er jedoch immer wieder als Freiwilliger in der Ukraine. Manchmal brennt eine Küche, weil jemand vergessen hat, den Herd auszumachen. An anderen Tagen rückt Thal mit seinen Kollegen aus, weil ein altes Stromkabel durchschmort. Und manchmal steht er mit seinem Team in einer Markthalle, die in Flammen steht, weil eine russische Bombe eingeschlagen hat. Dann löscht er ein 2800 Quadratmeter großes Flammenmeer.
Jedes Mal, wenn Nils Thal ausrückt, könnte es sein letzter Einsatz sein: Charkiw ist eine der am meisten bombardierten Städte im russisch-ukrainischen Krieg. Trotzdem arbeitet der 38-Jährige in der Feuerwache im Nordosten der Stadt, wartet bis der Alarm schrillt, springt auf ein Löschfahrzeug und rast dorthin, wo die Bomben fallen. Warum riskiert ein Mensch sein Leben, um einem Land zu helfen, das er kaum kennt?
Ruhig heißt: Drohnen, Raketen, Luftalarm - aber nicht in ihrem Revier
Ein paar Tage, bevor Thal zum Barabashovo-Markt ausrückt, sitzt er in der Kälte und isst ein Stück Wassermelone. Ein halbes Dutzend Männer warten neben ihm, Zigarettenrauch qualmt aus Mundwinkeln, Funkgeräte knarzen. Die Feuerwache 18, Thals Arbeitsplatz, ist ein brachialer Backsteinbau mit Rolltoren und Fenstern, vor denen sich Sandsäcke stapeln. Sie liegt in Saltivka, einem Viertel im Nordosten von Charkiw.
Als 2022 die russische Armee auf die Stadt vorrückte, war Saltivka ein Vorort, in dem ukrainische Truppen den russischen Vormarsch stoppten. Die Kampfhandlungen haben tiefe Narben in dem noch immer bewohnten Viertel hinterlassen: Ballistische Raketen und Artilleriegeschosse zerstörten Wohnsiedlungen, schlugen Krater in Spielplätze und Schulgebäude, Häuserschlachten zerstörten ganze Straßenzüge. Viele Gebäude sind nicht mehr bewohnbar, die Fassaden durchlöchert, die Scheiben zerborsten. Bagger reißen einsturzgefährdete Häuser ab, während immer neue Luftangriffe immer neue Ruinen schaffen.
"Heute ist ein ruhiger Abend", sagt Thal und greift sich ein neues Stück Wassermelone vom Tisch zwischen den Feuerwehrautos in der Halle der Wache. Ruhig heißt für ihn: Feindliche Drohnen tauchen auf dem Radar auf, der Luftalarm hallt durch die Straßen, vielleicht schlägt auch irgendwo in der Stadt eine Rakete ein, aber nicht im Nordosten, dort, wo Thal und seine Kollegen ausrücken und Feuer löschen.
Auf der Fensterbank neben dem Tisch liegt Thals Arbeitsuniform: ein Gefechtshelm, schwarze Stiefel und eine Kevlar-Weste mit einer Aufschrift: Fire & Rescue, Feuer- und Rettungsdienst, darunter ein Aufnäher mit einem A, drei Strichen und einem Plus. Helm und Weste schützen Thal vor dem, was ihn töten kann: umherfliegenden Trümmerstücken, Bombensplittern oder Drohnenteilen. Der Sticker hilft, falls der Schutz versagt: Durch den gut sichtbaren Aufnäher wissen die Sanitäter dann, welche Blutgruppe sie nach einem Unglück in Thals Adern pumpen müssen.
"Mein Vater war am Anfang nicht einverstanden, dass ich in die Ukraine fahren wollte"
Nils Thal
Erzählt Nils Thal von sich und seiner Arbeit, wirkt er wie jemand, der alles unter Kontrolle hat: seine Gedanken, seine Emotionen, seine Angst. Selten spricht er über Gefühle oder darüber, was seine Familie macht, auch weil er Angst hat, dass seine Angehörigen durch ihn Schaden erleiden könnten: Als freiwilliger Helfer, fürchtet Thal, habe er sich zur Zielscheibe russischer Vergeltungsmaßnahmen gemacht. In der Vergangenheit hätten Unbekannte bei seiner Feuerwehr in Deutschland angerufen, sich nach seinen Kontaktdaten und seinem Aufenthaltsort erkundigt.
"Mein Vater", sagt Thal, "war am Anfang nicht einverstanden, dass ich in die Ukraine fahren wollte." Er hätte sich Sorgen gemacht, dass sein Sohn in frontnahen Gebieten als Feuerwehrmann arbeitet, wenn überhaupt, hätte er sein Kind lieber beim Helfen in der Logistik gesehen, weit weg vom Kriegsgeschehen. "Ich wollte aber nach Charkiw, weil ich wusste: Da brennt es häufig und es fehlen viele Feuerwehrleute. Außerdem wollte ich das machen, was ich am besten kann: Feuer löschen". Inzwischen, sagt Thal, tausche er sich immer mal wieder mit seinem Vater über das aus, was er in der Ukraine mache und erlebe. Meistens analysieren die beiden dann zusammen die aktuelle Lage oder sprechen über Politik. "Ich denke, mittlerweile vertraut mein Vater darauf, dass ich auf mich aufpasse, sollte es gefährlich werden."
Durch seine Freiwilligenarbeit in Charkiw, sagt Thal, habe er viele Probleme, die er vorher nicht hatte: Mit seinem Dienstherrn, der nicht glücklich ist, dass er ständig als freiwilliger Feuerwehrmann in der Ukraine aushilft, mit Freunden, die nicht verstehen, warum er gegangen ist, oder seine Hilfe für das überfallene Land gar ablehnen. Arbeitsrechtlich ist Thal noch immer verbeamtet in Nürnberg, seine Zeit in der Ukraine ist Teil eines Sabbaticals. Dadurch bezieht er weiter Teile seines Gehaltes aus Deutschland und finanziert sich so seine Freiwilligenarbeit. Bis zum Ende des Jahres läuft die bezahlte Auszeit noch, wie es danach weitergeht, weiß der Feuerwehrmann noch nicht.
Freundschaften gingen in die Brüche, weil die Welten, in denen seine alten Freunde und er selbst leben, zu weit auseinanderliegen. "Viele konnten, andere wollten sich nicht mit dem auseinandersetzen, was ich hier mache", sagt Thal. Und so veränderte sich sein Freundeskreis. Heute, sagt er, seien vor allem Verbindungen zu Freunden übriggeblieben, die selbst helfen, zu anderen Feuerwehrmännern, zu Freiwilligen oder Menschen, die verstehen, was er hier tut.
Selten habe er wirklich private Gespräche, in denen er dann mit Freunden über Fernsehsendungen redet oder darüber, wie es ihm geht. Thal macht es traurig, dass durch sein Engagement Freundschaften in die Brüche gingen, alte Bekannte sich nicht mehr meldeten, das Umfeld immer kleiner wird. Inzwischen, sagt er, ordnet er alles in seinem Privatleben seinem Engagement in der Ukraine unter: "Das, was ich hier mache, nimmt inzwischen fast mein ganzes Leben ein."
Fragt man ihn, warum er sich all das antut, warum er Freunde und Familie zurücklässt und seinen Arbeitsplatz riskiert, bekommt man die Antwort eines Mannes, der kein Unrecht zu ertragen scheint. "Russland tritt die internationale Friedensordnung mit den Füßen, da kann ich nicht zu Hause sitzen und zuschauen."
Seine Arbeit sieht der Feuerwehrmann als eine Form des Widerstandes, als Teil eines Kampfes gegen einen imperialistischen Gegner, der sich mit dem Recht des Stärkeren nimmt, was ihm gefällt. Er möchte verhindern, dass das Böse siegt und der Stärkere den Schwächeren unterdrückt. Nils Thal sagt, es sei nicht das erste Mal in seinem Leben, dass er Unrecht erlebe, und seither hilft er jenen, die sich nicht wehren können. "Ich zweifle nicht daran, dass das, was ich hier tue, richtig ist."
Für seine Überzeugung riskiert Thal sein Leben: In den vergangenen dreieinhalb Jahren starben immer wieder Rettungskräfte durch Doppelschläge. Mit einer Drohne oder Rakete setzt die russische Armee ein Gebäude in Brand, wartet, bis Hilfskräfte vor Ort sind, und schlägt ein zweites oder drittes Mal zu.
Auch Thal hat bereits Doppelschläge erlebt. Vor einiger Zeit sei er zu einem Brand ausgerückt, dann schlug eine Splitterbombe neben dem Löschtrupp ein. "Solche Waffen setzt man ein, wenn man Menschen verletzten will." Thal konnte die Feuerblitze beim Einschlag sehen, den Rauch riechen. Dann brach einer seiner Kollegen neben ihm zusammen: Splitter hatten ihn getroffen. Auf dem Weg zum Krankenhaus saß Thal neben ihm im Löschfahrzeug und verband seine Wunden. Schwerverletzt überlebte der Mann den Angriff.
Auf die Frage, wie er das Grauen verarbeitet, das er im Krieg erlebt, scheint Thal selbst keine Antwort zu finden. Nur einmal verliert er kurz seine Fassung, als er von einem Einsatz vor einem Monat erzählt: Ein Wohnhaus brannte, mehrere Menschen kamen ums Leben, darunter ein Kind. Nach dem Brand ging Thal mit einer Schaufel in die Dachgeschosswohnung des Hauses, um Schutt wegzuräumen. Als er Steine zur Seite schippte, sah er einen rosafarbenen Kinderschuh auf seiner Schaufel liegen. "Wenn ich mir vorstelle, dass in diesen Schuhen ein Kinderfuß steckte, dann …" Thal zögert, starrt auf den Betonboden der Feuerwache. Er schüttelt den Kopf, so als wolle er den Gedanken vertreiben, der ihm gerade durch den Kopf geht, und sagt: "Ich höre erst auf, wenn dieses Leid endet. Auch wenn mich das an meine Grenzen bringt."
Gegen 23 Uhr, als die Kälte die Füße hochkriecht und die Zigarettenstummel verglimmen, ziehen sich die Männer der Wache 18 tief unter die Erde zurück: Die Einsatzkräfte schlafen in einem Bunker, der unter dem Gebäude liegt. Eine Treppe führt ins Erdreich, durch zwei Metalltüren mit Drehrädern und Metallbolzen wird alles, was dahinter liegt, vor Luftangriffen geschützt: ein großer Raum, ein paar Feldbetten, zwei Duschräume.
Der deutsche Feuerwehrmann in der Ukraine hilft der Moral
In einer Ecke eine schmale Pritsche, ein Schlafsack, eine Leselampe: Nils Thals Nachtlager für die Monate, die er in der Ukraine verbringt. "Ich vermisse hier nichts, ich bin es gewohnt, mit wenig auszukommen", sagt er. Indien, Afrika, Südostasien – auf Rucksackreisen lernte er, schlicht zu leben. "Ich schlafe lieber in einem Zelt als im Hotel."
Am nächsten Tag ist Schichtwechsel in der Feuerwache 18. Neue Leute stehen im Innenhof des brachialen Backsteingebäudes, rauchen und warten auf das Heulen der Sirenen. Die Kälte des Vorabends ist warmem Sonnenschein gewichen, der Herbst verfärbt die Blätter der Weinreben an den Wänden eines kleinen Pavillons. Dort sitzen ein halbes Dutzend Männer auf Bänken und trinken Tee aus dampfenden Tassen.
Einer von ihnen ist Vyacheslav Savchenko, 24, braune Haare, Baseballcap, Fleecepulli mit einem Aufnäher: Ukrainian Rescuer, daneben die blau-gelbe Landesflagge. Savchenko ist seit vier Jahren Ersthelfer, er kommt aus einer Feuerwehrdynastie: Vater, Mutter, Schwester, alle arbeiten sie bei der Feuerwehr. Drei Monate war er im Job, dann brach der Krieg aus. Seither steht der 24-jährige Berufsanfänger in Bombenkratern und löscht die brennenden Häuser seiner Heimat.
"Wenn jemand aus seiner friedlichen Heimat hierher in den Krieg kommt, dann können auch wir weiterkämpfen"
Vyacheslav Savchenko
Weil Vyacheslav Savchenko fließend Englisch spricht, wurde er schnell zu Thals Ansprech- und Löschpartner. Häufig sitzt er bei Einsätzen mit dem Deutschen im Fahrzeug, hilft ihm beim Übersetzen. Savchenko hat eine Liste mit wichtigen Fachbegriffen geschrieben, damit der Deutsche sich auch ohne seine Hilfe mit den ukrainischen Kollegen verständigen kann.
"Nils ist ein ausgezeichneter Feuerwehrmann", sagt Savchenko. "Bei den Einsätzen versteht er sofort, wie er den Brand am besten löscht, was er tun muss." Noch wichtiger als sein Können sei seine Anwesenheit für die Moral der Truppe: Er motiviere die Männer, helfe ihnen, nicht aufzugeben. "Wenn jemand aus seiner friedlichen Heimat hierher in den Krieg kommt, seine Familie zurücklässt, sein Leben riskiert, dann können auch wir weiterkämpfen."
Fragt man Vyacheslav Savchenko, warum er glaube, dass Thal in der Ukraine arbeitet und sein Leben riskiert, erzählt er von dessen Wunsch, zu helfen, seinem Kampf gegen das Unrecht – und die Suche nach Adrenalin. Wer hier als Feuerwehrmann freiwillig arbeite, sagt Savchenko, müsse Adrenalin lieben."Dafür ist ein Krieg der perfekte Ort."
Gleitbomben, die Markthallen zerstören, Drohnen, die in Wohnhäuser einschlagen, die Front nur zwei Dutzend Kilometer entfernt – in kaum einer Region der Welt kommen Zivilisten so nah und so einfach in ein aktives Kriegsgebiet wie in der Ukraine. Wenn das Adrenalin durch seine Adern rausche, vergesse auch er selbst alles andere: den Kriegsalltag, die Beine, die brennen, den Rücken, der unter der Last der Ausrüstung schmerzt. Inzwischen kann Vyacheslav Savchenko ruhige Tage ohne Einsätze kaum mehr ertragen: "Ich will, dass irgendwo eine Rakete ‚boom‘ macht und wir ausrücken müssen."
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Mehr als dreieinhalb Jahre Krieg haben Savchenkos Zeitwahrnehmung verschoben. Häufig kann er sich nicht an Daten erinnern, weiß nicht mehr, wo und wann er Brände gelöscht hat. Der Krieg hat seine Erinnerung durchlöchert, Tage zu Wochen und Wochen zu Monaten verschwimmen lassen. Pläne für die Zukunft schmieden, das traut er sich kaum. "Im Februar 2022, mit Kriegsbeginn, wachte ich auf und lebe seither in einer neuen Realität."
Eine Realität, in der Männer ihr Heimatland nicht verlassen dürfen, Luftalarm zum Alltag gehört und die Fahrt zu einem Brandeinsatz tödlich enden kann. Nach dem Krieg möchte Vyacheslav Savchenko zum ersten Mal in seinem Leben die Ukraine verlassen, mit Thal nach Deutschland fahren und eine Welt entdecken, die er nur aus Tiktok-Videos kennt, die er auf seinem Smartphone anschaut, während er in der Feuerwache 18 sitzt und wartet.
Im Morgengrauen haben Nils Thal und seine Kollegen das Feuer in der Barabashovo-Markthalle unter Kontrolle. Nur noch vereinzelt züngeln Flammen an verbrannten Balken empor, verkohlte Stoffballen und zersprungene Glasscheiben liegen in den Gängen zwischen den Einkaufsläden. Erschöpfte Feuerwehrmänner sitzen auf Bänken vor dem Gebäude, ziehen ihre Helme von den schweißverklebten Köpfen und trinken Wasser aus großen Plastikflaschen. Während die Morgensonne die Wolken am Himmel rot verfärbt, rollen die Männer die Feuerwehrschläuche zusammen, schleppen sie über den heißen Asphalt zu den Fahrzeugen und fahren zurück in ihre Wachen. Dort werden sie sich ausruhen, warten, bis die nächste Bombe einschlägt, dann ausrücken, Feuer löschen und den Himmel nach Drohnen absuchen, damit kein Doppelschlag den Einsatz zum letzten ihres Lebens macht.



