- Anmelden, um Kommentare verfassen zu können
Vor einiger Zeit unterhielt ich mich mit einem Bekannten über sein Leben mit seinem schwermehrfachbehinderten Sohn. Er erzählte mir von den Belastungen, vor allem aber von ihrem gemeinsamen Glück. Zum Abschluss sagte er, fast flüsterte er, als ob es ungehörig wäre: "Menschen mit Behinderungen ist es noch nie so gut gegangen wie heute."
Fast hätte ich gelacht, denn solch eine Aussage hört man selten. Meist ist – zu Recht – davon die Rede, dass es noch lange nicht gut ist und weiterer Anstrengungen bedarf, damit Menschen mit Behinderungen ein würdiges Leben führen. Aber der Satz dieses Vaters hat doch sein großes Recht. Zum einen steht er gegen das allgegenwärtige Alles-Schlecht-Reden, zum anderen ist er historisch korrekt. Es gibt Fortschritt.
Hörtipp: Ist das Wort "behindert" problematisch?
Wer einen Eindruck davon gewinnen möchte, was für ein Kampf es war, diesen Fortschritt ins Werk zu setzen, was für einen Enthusiasmus, eine Streitlust, eine Verrücktheit es dafür brauchte, kann dies jetzt in einem neuen, schlanken, witzigen, anrührenden und manchmal angenehm rotzigen Roman nachlesen. Das lohnt sich besonders am heutigen Tag der Deutschen Einheit. Denn die Abkehr von der autoritären Fürsorge hin zu Achtung und Selbstbestimmung vollzog sich in West- und Deutschland durchaus ähnlich, wenn auch unter völlig unterschiedlichen Bedingungen. In der DDR wurden die Menschen mit Behinderungen den Kirchen zugeschoben. Der realexistierende Sozialismus wusste mit diesen Menschen wenig anzufangen.
Die Kirchen aber boten – bei allen Defiziten und Versäumnissen – die Möglichkeit, eine Sonderwelt aufzubauen. Diese Chance wurde in den späten und frühen 1980er Jahren von nicht wenigen ergriffen. Besonders eindrücklich zeigt sich dies in einem klassischen Essay des großen Franz Fühmann. Wiederholt hatte er für mehrere Wochen in den evangelischen Samariteranstalten in Fürstenwalde gelebt, die unmittelbare Wahrhaftigkeit der dort lebenden Menschen genossen und ihnen in "Was für eine Insel in was für einem Meer. Leben mit geistig Behinderten" (Rostock, 1985) ein Denkmal gesetzt.
In "Gesellschaft mit beschränkter Hoffnung" (Edition Nautilus) erzählt Karsten Krampitz eine ähnliche Geschichte. Eine Blues-Band, eine Gruppe von Schwerbehinderten mit ihren Freunden und anderen aus dem System gefallen, gründen in einem kleinen Dorf in Thüringen eine Wohn- und Lebensgemeinschaft. Ein leer stehendes Pfarrhaus macht es möglich. In Hartroda soll eine Utopie wirklich werden, ein Leben in Selbstbestimmung und Solidarität.
Der geistige Kopf ist Marko Grunstetter, genannt Gruns, der trotz seiner körperlichen Einschränkungen ein theologisches Fernstudium abgelegt hatte, aber nicht zum Pfarrer ordiniert wurde. In seinen "Predigten" zeigt er der "Krüppelkommune mit christlichem Anstrich" den Weg in die "spirituelle Selbstermächtigung". Die Zeit ist knapp, seine Lebensaussichten und die vieler anderer sind begrenzt. Das gibt ihnen die Kraft, endlich "Nein" zu sagen und sich gegen Bevormundung und Einschränkung aufzulehnen. Vor allem wollen sie nicht mehr akzeptieren, als behindert angesehen zu werden. Gruns erklärt: "Wir sind völlig normal. Wir entsprechen nur nicht der Norm. Wir akzeptieren die uns gesetzte Grenze nicht." Das Leitwort sollte deshalb nicht "Hilfe", sondern "Freiheit" heißen. Und die definierte Gruns so: "Freiheit ist, wenn Menschen, die einander brauchen, anders miteinander umgehen."
Das ist das Programm. Daraus entwickelt sich eine beeindruckende Geschichte. Krampitz erzählt sie ohne Sentimentalität oder Idealisierung, sondern mit Sinn für drastische, entwaffnende Komik. Das will ich hier nicht nacherzählen, die Lesefreude möchte ich niemandem nehmen. Das Ende ist traurig: Die DDR bricht zusammen, mit der Wiedervereinigung verliert die WG von Hartroda ihre Existenzgrundlagen, zudem müssen die Idealisten nachträglich erkennen, dass die Staatssicherheit natürlich auch in dem abgelegenen, ehemaligen Pfarrhaus alles mitgehört und mitgeschrieben hat.
Aber diese Einsicht nimmt der Idee nicht ihren Wert. So ungenügend, armselig, verdreht und zum Teil verlogen das Zusammenleben in Hartroda war, wurde hier doch – wie zeitgleich andernorts im Osten und Westen – eine Ahnung davon geboren, dass Menschen mit Behinderungen eben vor allem dies sind: Menschen mit Würde (was nicht heißt, dass sie perfekt wären).