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Wenn ich aus dem Haus gehe, höre ich ihr eindringliches Trompeten, laut und mit einer suchenden, sehnsuchtsvollen Note. Es gibt diese unvermeidlichen Ereignisse im Jahr, die jedes Jahr wiederkehren und den Wandel der Jahreszeiten genauso zuverlässig anzeigen wie der Kalender. Wenn die Leuchtsterne in den Fenstern hängen, ist Advent. Wenn Krokusse blühen, hat der Winter bald verloren. Und wenn die Kraniche rufen, wird es Herbst. Der erste Kranichruf, irgendwann Anfang September, fährt mir immer ins Herz, weil er ein Zeichen ist: Der Sommer ist vorbei. Und zugleich klingt er wunderschön.
Lesetipp: Der Sommer geht - die schönen Eindrücke bleiben
Kraniche fliegen zu zweit oder in größeren Gruppen über die Stadt und stehen auf abgeernteten Feldern. Manchmal hört man ihren Ruf auch, ohne den Vogel zu sehen, weil ein Haus oder Bäume das Sichtfeld versperren. Die Kraniche machen auf ihrem Weg aus den Brutgebieten in Skandinavien Rast an der Ostsee, ehe sie weiter nach Südeuropa fliegen, wo sie den Winter verbringen.
Seit jeher faszinieren Kraniche die Menschen – in Asien gelten sie als Vögel des Glücks. Wer 1000 Origamikraniche faltet, heißt es, hat einen Wunsch frei. Sie leben seit 60 Millionen Jahren auf der Erde, länger als die frühesten Säugetiere. Mutmaßlich gibt es sie, seitdem die Dinosaurier von der Erde verschwanden. In Mecklenburg-Vorpommern sind sie ein Tourismusfaktor. Im Herbst, wenn die Badesaison vorbei ist, kommen Touristen auch der Kraniche wegen – und weil man in den Darßer Wäldern des Nationalparks Vorpommersche Boddenlandschaft dann die Rotwildbrunft erleben kann.
Über 100 000 Kraniche kommen pro Saison an die Boddenkette bei Zingst, sammeln sich hier und fressen sich satt, ehe sie nach Süden weiterfliegen. Im flachen Wasser der Bodden, Lagunen der Ostsee, stehen sie in der Nacht geschützt vor Füchsen und haben es am Tag nicht weit bis zum nächsten Maisfeld.
Landwirte finden das nicht so toll. Auch darum hat Günter Nowald vom Kranichschutz Deutschland eine Ablenkfütterung eingerichtet. Vor dem Kranorama, einer Beobachtungsstation, wird jeden Tag Mais auf eine Fläche am Günzer See bei Stralsund gekippt. Win-Win-Win: Die Kraniche können fressen, die Touristen fotografieren, die Bauern haben keine Ernteeinbußen. Direkt neben dem Kranorama liegt das neu eröffnete NABU-Erlebniszentrum Kranichwelten mit viel Multimedia, Filmen, Animationen, auch "Fan-Artikel"; alles zum Kranich.
Günter Nowald ist NABU-Kranichexperte und sagt, dass Kraniche sehr sozial sind. Um den richtigen Zeitpunkt für den Abflug zu finden oder sich über die Flugformation zu verständigen, müssen die Kraniche miteinander kommunizieren. Das machen sie vor allem über Laute. Sie erkennen einander an den Stimmen. Mit einem Duettruf verständigen sich Kranichpaare, die übrigens meistens lebenslang zusammenbleiben.
Eigentlich, sagt er, seien Kraniche Vögel des Ostens, denn auch in der DDR hat man sich schon früh um den Schutz der Kraniche bemüht - lange, bevor man im Westen den Vogel im Blick hatte. Ihre Rast- und Sammelplätze liegen überwiegend in Ostdeutschland, und die wenigen Brutpaare, die sich entscheiden, ihre Jungen in Deutschland aufzuziehen, anstatt den weiten Weg nach Skandinavien zu nehmen, leben zu 90 Prozent in Ostdeutschland.
Allerdings bleiben nur 15 000 Kraniche hier, ein Drittel davon bleibt in Mecklenburg-Vorpommern. Was ihnen bei uns fehlt, sind Feuchtgebiete. Nasse Wiesen, Moore, Sümpfe. Günter Nowald sagt, wenn es gut läuft, könnten die Wiedervernässungen, die eigentlich vor allem dem Klimaschutz dienen sollen, auch den Kranichen zugutekommen.
Er erforscht die Vögel seit 1992 und sagt: "Man kann eigentlich gar nicht anders, als sich in die Kraniche zu verlieben." Das finde ich auch. Ein paar Wochen werde ich ihre Rufe noch hören – der Peak an den Bodden ist in der ersten Oktoberwoche. Dann fliegen sie fort, die großen, grauen Vögel. Im späten Winter, Ende Februar vermutlich, wird dann wieder ein Trompeten zu hören sein. Dann ist klar: Der Winter ist vorbei.