Kurzgeschichte
Frau Dunkel
Sie wirkt bedrohlich und riecht merkwürdig. Aber nicht alles an Frau Dunkel ist dunkel - eine Kurzgeschichte von Dirk Berneman
Lisa Seitz
Privat
Philipp Balunovic
26.07.2025
4Min

Wenn Frau Dunkel mir im Hausflur begegnet, macht es immer ein komisches Geräusch. So ein Knarzen, Knattern, Zerren, Zurrzen, Zumpeln und Ruckeln und Rumpeln. Furchteinflößend und schrecklich. Sie läuft sehr langsam und meistens hat sie nur eine Tüte dabei, die sie draußen zu den Mülltonnen bringt. Immer ist sie dabei dunkel gekleidet.

Und sie zieht einen Geruch hinter sich her, schlimmer als der Geruch des Mülls, den sie trägt. Sie riecht nach alten Erbsen, durchgekochten Kartoffeln, sie riecht nach dem Schwarzen, was in der Pfanne kleben bleibt, wenn man ein Schnitzel zu lange gebraten hat, sie riecht nach der toten kleinen Maus, die Papa mal unter dem Schrank gefunden hat.

Ich traue mich nicht, sie zu grüßen, wenn sie mir im Hausflur entgegenkommt. Ihr Blick sieht auch nicht so aus, als sollte ein Kind sie ansprechen. Wie wohl ihre Stimme klingt? Bestimmt so ein Grunzen und Bölken, ein Rattern und Brubbeln. Die meisten Erwachsenen grüßen sie auch nicht. Frau Dunkel schaut ohnehin oft auf den Boden.

Privat

Dirk Bernemann

Dirk Bernemann ist Schriftsteller und Journalist. Er hat Romane und Kurzgeschichtenbände veröffentlicht. Zuletzt erschien der ­Roman "Kalk" bei der Edition W.

Ich habe mich schon oft gefragt, wie es in der ­Wohnung von Frau Dunkel aussieht. Bestimmt sitzt sie in ihrem Sessel. Nirgendwo brennt Licht. Auf dem Tisch mit der Schwarzsuppe steht eine kleine Kerze, die widerwillig flackert. Frau Dunkel macht sich dann dunkle Gedanken darüber, wie man dunkle Suppe aus Kindern macht.

Heute habe ich mir vorgenommen, Frau Dunkel zu verfolgen. Ich will wissen, wohin sie geht, wenn sie nicht den Müll wegbringt. Wie immer ist sie dunkel angezogen. Sie verlässt ihre Wohnung, schleicht durch den Hausflur. ­Ihr Geruch ist heute irgendwie anders, sie riecht nach ­Blumenparfüm.

Langsam geht sie die Straße entlang. Ich folge ihr unauffällig. Ich verstecke mich hinter Stromkästen, großen Hunden, parkenden Autos und Skulpturen. Ich schleiche um Ecken, Straßenschilder, Blumenkästen und Fahrradständer. Frau Dunkel geht durch die Stadt und schaut auf den Boden, niemand grüßt sie, sie grüßt niemanden.

Sie setzt sich in ein Straßencafé. Ich setze mich drei ­Tische neben sie. Komischerweise bestellt Frau Dunkel zwei Tassen Kaffee, beide schwarz, obwohl sie allein ist.

"Erwarten Sie noch jemanden?", fragt der Kellner. Frau Dunkel antwortet ihm nicht. Ich bestelle eine gelbe ­Limonade. Frau Dunkel trinkt einen Kaffee aus und lässt den anderen stehen.

Sie bezahlt und der Kellner räumt kopfschüttelnd den unberührten Kaffee ab. Frau Dunkel steht auf und geht langsam weiter. Sie geht durch das Friedhofstor. Dann links, dann rechts. Dann wieder links. Dann ein bisschen länger geradeaus. Dann wieder rechts. Dann wieder links. Sie bleibt vor einem Grab stehen.

Ich verstecke mich hinter einem Grabstein und schaue ihr zu. Frau Dunkel zieht ihren schwarzen Mantel aus. Darunter trägt sie überraschenderweise ein buntes Kleid in allen Farben des Regenbogens. Sie beginnt, zu Musik zu tanzen, die niemand außer ihr selbst hören kann. Sie umarmt sich selbst.

Unglaublich, was ich da sehe. Als Frau Dunkel mit dem Tanzen fertig ist, zieht sie ihren langen schwarzen Mantel wieder an. Sie geht langsam zum Friedhofstor. Ich gehe zu der Grabstätte, vor der Frau Dunkel eben stand.
Auf dem Grabstein steht:

Hier ruht Herr Dunkel, gestorben vor kurzem. Er war so gern mit seiner Frau Kaffee trinken und hat ihr so gern beim Tanzen zugesehen. Außerdem liebte er ihr Blumenparfüm.

Schnell habe ich wieder zu Frau Dunkel ­aufgeschlossen. Aber ich überhole sie. Gehe in den Supermarkt. Da bin ich so schnell, dass ich noch vor Frau Dunkel zurück in ­unserem Haus bin. Ich setze mich vor die Tür von Frau Dunkels Wohnung und warte. Ich rieche sie schon ­kommen, wegen des Blumenparfüms. Mit großen Augen schaut sie mich an. Endlich sehe ich ihr Gesicht.

Es ist groß und rund und sie hat sehr weiße Zähne. Unter den Augen hat Frau Dunkel dunkle Ränder. Auf den Lippen trägt sie dunkelroten Lippenstift. Ich zeige ihr, dass ich dunkle Schokolade und dunklen Kuchen gekauft habe. Frau Dunkel lächelt. Wir betreten gemeinsam ihre Wohnung.

Dort sieht es ganz anders aus, als ich dachte. Alles ist aus hellem Holz, sie hat eine rote Couch, einen grünen Teppich, weißes Geschirr und eine schwarze und eine weiße Katze. "Das sind Zart und Bitter", sagt sie, und ich streichle beide. An den Wänden hängen viele Bilder von ihr und Herrn Dunkel. Die ganze Wohnung duftet nach Blumen.

Frau Dunkel bietet mir schwarzen Johannisbeersaft an und macht sich selbst einen Kaffee. Sie isst von der ­dunklen Schokolade, ich esse den dunklen Kuchen. Es schmeckt uns. Sie sagt: "Komm ruhig öfter zu Besuch. Besuch tut gut."

Frau Dunkel öffnet die Vorhänge. Sonnenstrahlen ­kommen durch das Fenster in ihre Wohnung. Frau Dunkel lacht.

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