Gunnar Peck unternahm drei Kontrollgänge, zwei in der U3 und einen in der U7, bevor er sich einen Ausweis erstellte.
Es schien ihm, als wären insbesondere das Format und die Klarsichthülle wichtig sowie ein runder, nicht zu großer Stempel. Gunnar Peck hatte wenig Geduld und keine besondere Freude an der Fälschung, aber es erschien ihm mittelfristig zu riskant, seinen alten Studentenausweis in die Höhe zu halten. Er schrieb eine Bestätigung, dass Gunnar Peck im Auftrag der städtischen Fahrgastbetriebe kontrolliere, die er auf taubengrauem Papier ausdruckte. Dann versah er sie mit einem Stempel, den er in seiner alten Kinderpost auf dem Dachboden gefunden hatte. Es war einer für Eilbriefe, aber Gunnar Peck hatte bei seinen Probekontrollen den Eindruck gewonnen, dass die Leute nur flüchtig auf den Ausweis sahen.
Ihr Blick war ähnlich flüchtig wie der, den der Prüfer auf die Liste der theologischen Examensfragen geworfen hatte, als man ihn zum Gleichnis vom guten Samariter befragt hatte. Gunnar Peck mochte das Gleichnis, ihm gefiel die Klarheit der Unterscheidung zwischen dem hilfreichen Samariter einerseits und dem gleichgültigen Leviten und dem allzu gesetzesgläubigen Priester andererseits, vor allem gefiel ihm, dass niemand versuchte, die Schuld des Leviten und des Priesters zu bemänteln. Aber als der Prüfer Gunnar Peck nach der augustinischen Auslegung befragte, wurde sein Kopf plötzlich wolkig, so sehr, dass er schließlich nicht einmal mehr die Merkmale eines Gleichnisses erklären konnte und durch die Prüfung fiel.
Friederike Gräff
Danach verbrachte er weniger Zeit an der Universität, und schließlich blieb er ihr ganz fern. Stattdessen dehnte er seine Fahrten mit der U-Bahn, dem Bus und den Straßenbahnen aus.
Er bevorzugte die Straßenbahnen und Busse, weil ihm die Stimmung darin freundlicher erschien als im Untergrund, den Kontrolleuren jedoch begegnete er in der U-Bahn.
Es waren zwei junge Männer mit kurz geschorenen Haaren und Jeansjacken, die mit einer Frau und einem Jungen, die beide keinen Fahrschein hatten, an der nächsten Station ausstiegen. Gunnar Peck folgte ihnen. Die Frau trug einen blonden Pferdeschwanz und einen blauen Mantel aus teurer Wolle, und die Kontrolleure siezten sie und sagten, dass es kein Problem sei, wenn sie statt des Personalausweises ihren Führerschein vorzeige. Der Junge war picklig und mürrisch. Dennoch schien es Gunnar Peck unangebracht, dass die Kontrolleure ihn duzten, und er fand es nicht angemessen, dass sie die Bahnpolizei riefen, als er keinen Personalausweis vorweisen konnte.
Gunnar Peck stellte sich gelegentlich die Frage "Was wäre wenn?", aber er hatte sie nie weiterverfolgt. In der Regel waren es düstere Fragen wie die, was wäre, wenn er von der S-Bahn-Brücke spränge oder plötzlich die Sprechstundenhilfe des Hals-, Nasen-, Ohrenarztes anschrie. Gunnar Peck war überrascht, als er sich fragte: "Was wäre, wenn ich sagte: ,Die Fahrkarten, bitte‘?", und es dann tat. Die Fahrgäste hielten ihre Fahrausweise in die Höhe, ohne ihn dabei anzusehen.
"Herzlichen Dank", sagte Gunnar Peck, und er war froh, dass niemand ohne Fahrschein war, weil er nicht gewusst hätte, was er dann hätte tun sollen.
Hinterher ging er zu einer Bankfiliale und bat um einhundert Überweisungsformulare, in die er zu Hause mit einer Schreibmaschine in das Empfängerfeld Städtische Verkehrsbetriebe und die passende Kontoverbindung einfügte.
Der erste Fahrgast, den er ohne Fahrschein antraf, war ein Punk.
"Hab ich nicht", sagte der, als Gunnar Peck ihn nach seiner Fahrkarte fragte.
"Dann würde ich gerne Ihren Personalausweis sehen", sagte Peck.
"Hab ich auch nicht", sagte der Punk. Seine grün-roten Haare standen armlang in die Höhe, und er hatte einen räudigen Hund bei sich, der an Gunnar Peck hochsprang.
Es saßen sieben Fahrgäste im Abteil, vier von ihnen sahen interessiert zu. Doch sie waren wie eine Schar Hühner, aus der eine Bäuerin eines zum Schlachten herausgegriffen hatte, es war ihnen nicht anzumerken, ob sie Mitleid empfanden oder voller Schadenfreude waren.
"Dann müssen wir jetzt aussteigen", sagte Peck und fürchtete, dass der Punk sich weigern würde.
Aber der Punk sagte: "Auch gut", und folgte ihm.
Gunnar Peck dachte, dass er ihn jetzt gehen lassen könnte. "Ich mache eine Ausnahme", könnte er sagen und: "Denken Sie künftig daran, einen Fahrschein zu kaufen."
Aber er tat es nicht, sondern zog ein Bankformular aus seiner Tasche hervor.
"Sie müssen leider das erhöhte Beförderungsentgelt von sechzig Euro bezahlen", sagte er.
"Auch gut", sagte der Punk.
"Auf Wiedersehen", sagte Gunnar Peck, und da er nicht wusste, was er tun sollte, stieg er die Treppe zum Ausgang hoch.
Auf dem ersten Absatz drehte er sich vorsichtig noch einmal um und glaubte zu sehen, wie der Punk das Überweisungsformular zu einem Ball formte und es für den räudigen Hund in die Luft warf.
Erst auf der Rückfahrt fiel Gunnar Peck auf, dass er nicht die Personalien des Punks aufgenommen hatte, und er fragte sich, ob diesem seine Unprofessionalität aufgefallen war.
Er gewöhnte sich an, an seinen Diensttagen ein blaues Cordjackett zu tragen, und wenn er in den Gang der U-Bahn trat und eine Kontrolle ankündigte, fühlte er sich wie ein Dirigent, der den Taktstock hebt. Bei guten Kontrollen kam er mit den Fahrgästen ins Gespräch. Meist waren es ältere Leute, die sagten, es sei gut, dass jemand nach dem Rechten sehe, oder darüber klagten, dass die Karten immer teurer würden.
"Ich muss Ihnen da recht geben", sagte Gunnar Peck, "aber wir unterliegen einer höheren Ordnung."
An einem Sonntag, an dem er sich einsam fühlte, kontrollierte er in der M4. Er war sich unsicher, ob Kontrollen in Straßenbahnen üblich waren, aber er hatte Sehnsucht nach ihrem unregelmäßigen Klingeln und dem holprigen Auffalten ihrer Türen.
In der Straßenbahn saß lediglich eine hutzelige alte Frau mit Haarknoten, die einen Korb mit Äpfeln auf dem Schoß stehen hatte.
"Das ist doch kein Leben", sagte sie zu Gunnar Peck. "Hast du nichts gelernt?" Dann sortierte sie die großen Äpfel in ihrem Korb, bis sie einen sehr kleinen fand, den sie ihm gab.
"Ich schätze meine Arbeit", sagte Gunnar Peck und fragte sich, ob das Cordjackett schäbig aussah.
Es dauerte lange, bis die Straßenbahn wieder hielt. Er setzte sich auf den am weitesten von ihr entfernten Sitzplatz, und als er ausstieg, warf er den Apfel in einen Mülleimer.
An einem Mittwoch fühlte er sich eigentlich nicht im Dienst, aber als er in die U-Bahn einstieg, hatte er das Bedürfnis nach einer Aufmunterung und rief: "Die Fahrkarten, bitte."
Finden Sie hier: Buchtipps aus der chrismon-Redaktion
Am Ende des Waggons stand eine junge Frau, deren fatalistischer Blick ihm sagte, dass sie keinen Fahrschein hatte. Neben ihr stand ein Mann in löchrigen Jeans, der ein Bündel Straßenzeitungen unterm Arm trug.
"Ich habe noch eine Fahrkarte übrig", rief er freudig, während die Frau ihn unschlüssig ansah.
"Das geht so nicht", sagte Gunnar Peck.
"Ich habe eine, ich habe eine", rief der Straßenzeitungsverkäufer.
"Es ist wie mit den klugen und den törichten Jungfrauen", sagte Gunnar Peck. "Irgendwann ist es zu spät."
Aber der Straßenzeitungsverkäufer hörte nicht auf ihn, und Gunnar Peck fühlte sich in seiner Autorität als Kontrolleur missachtet.
"Das ist Strafvereitelung", sagte er, wie er es in einem Film gesehen hatte, "hören Sie auf damit."
Der Straßenzeitungsverkäufer schwieg, und Gunnar Peck schrieb die Personalien der Frau auf.
Als er ausstieg, sprach ihn ein Junge mit Mardergesicht an.
"Mir gefällt der Job", sagte der Junge. "Man darf die nicht davonkommen lassen."
Gunnar Peck sagte nichts.
"Braucht man eine Ausbildung dafür?", fragte der Mardergesichtige.
"Ja, und sie dauert lange", sagte Gunnar Peck und wandte sich ab.