Ich wohne in einer kleinen Stadt im Westen.
Ich habe eine Wohnung im Neubaugebiet.
Ein Zimmer, Küche, Bad und Balkon.
Der Blick geht auf Ausfallstraße und Tankstelle.
Ich arbeite in der Zigarettenfabrik.
Ich beaufsichtige eine Maschine.
Die Maschine verpackt Zigaretten in silberne Folie.
10.000 Zigaretten in der Minute.
Ich stehe neben der Maschine und achte darauf, dass sie läuft.
Von sieben bis zwölf, halbe Stunde Mittagspause,
noch mal drei Stunden drauf.
Die Maschinen sind sehr laut. Ich trage Ohrenstöpsel.
Die anderen Fabrikarbeiterinnen tragen keine.
Sie wollen miteinander reden.
Sie bestehen darauf.
Ich sehe zu, wie sie sich anschreien. Ihre Gesichter sind rot.
Die Sehnen am Hals treten hervor. Sie gestikulieren.
Sie lachen viel, sie zeigen aufeinander.
Die meisten von ihnen sind hübsch.
Trotz der blauen Kittel, trotz der Hauben.
Wenn man Mittagspause hat, muss man Mahlzeit sagen.
Mahlzeit im Gang. In der Kantine, in der Schlange
an der Essensausgabe.
Ich vermeide es, Mahlzeit zu sagen.
Irgendwann fällt das auf.
Der Schichtleiter bestellt mich in sein Büro.
Er sieht mich an, von unten nach oben.
Er gähnt.
Er sagt: "Der Mittagsgruß gehört hier dazu."
Ich sage: "Ich weiß nicht, wovon Sie reden."
Er sagt: "Sie wissen das ganz genau."
Natürlich weiß ich das ganz genau.
Ich habe nicht vor, in dieser Fabrik zu bleiben.
Mein Leben da zu verbringen.
Ich kann das Wort Mahlzeit nicht ausstehen.
Er sagt: "Wenn Sie nicht Mahlzeit sagen, fliegen Sie raus."
Es geht nicht um das Wort.
Es geht um die Regeln.
Wir wissen das beide. Er lässt mich dann gehen.
Abends sitze ich auf meinem Balkon. Im vierten Stock.
Der Vormieter hat seine Blumenkästen dagelassen.
In den Kästen wächst etwas.
Blasse Stängel mit weißen Blüten, groß wie Streichholz-Köpfchen.
Ich gieße sie nie. Trotzdem sind sie da.
Auf dem Boden liegt Kunstrasen.
Es gibt einen Klapptisch und einen Stuhl.
Ich kann zu den anderen Balkonen rübersehen.
Ich kann runter zur Tankstelle sehen.
Ich mag den Blick auf die Tankstelle sehr.
Die blaue Leuchtreklame.
Die anfahrenden, abfahrenden Autos.
Wie die Leute aussteigen, tanken, reingehen, sich umsehen.
Wie sie in den Zeitungen blättern. Schokolade aussuchen.
Ich stelle mir vor, dass sie auf eine lange Fahrt gehen,
auf einer langen Fahrt sind.
Volltanken. Weit weg wollen.
Leute auf der Durchreise.
Frag sie nach dem Weg und sie sagen:
Oh, ich bin nicht von hier. Ich kenne mich
auch nicht aus. Tut mir leid.
Ich sitze auf dem Stuhl auf dem Balkon.
Ich habe die Füße auf dem Tisch.
Ich rauche. Ich schnicke die Asche über die Brüstung.
Ich lasse die Kippe in eine leere Coca-Cola-Dose fallen.
In diesem Sommer ist es sehr heiß.
Ich sitze in Unterwäsche draußen.
Ich sehe zu, wie es dunkel wird.
In den anderen Wohnungen gehen nach und nach die Lichter an.
Die Sonne ist weg. Die Wärme nicht.
Sie ist zwischen den Häusern.
Sie wird nicht weniger.
Ich gewöhne mir an, jeden Abend zur Tankstelle
runter zu gehen und ein Eis zu kaufen.
Ich ziehe mir ein Kleid über und Flipflops an.
Ich nehme den Schlüssel und Geld und gehe raus.
Ich fahre nie mit dem Fahrstuhl.
Ich gehe immer durchs Treppenhaus.
Ich mache im Treppenhaus nie das Licht an.
Draußen ist es noch heißer.
Überall stehen die Fenster auf.
Man kann die Fernseher hören.
Die Autos rollen ganz langsam an die Zapfsäulen.
Die Leute tanken wie im Schlaf.
Die Tür der Tankstelle geht von alleine auf.
Drinnen ist es kühl. Es läuft immer das Radio.
Ich stehe lange vor der offenen Eistruhe.
Ich tue so, als könne ich mich nicht entscheiden.
Ich nehme immer ein Domino-Eis.
Die Frau hinter der Kasse tippt auf ihrem Handy herum.
Es ist immer dieselbe Frau.
Wir wechseln nie ein persönliches Wort miteinander.
An diesem einen Abend gibt es eine Schlange.
Zwei Leute vor mir.
Die Tür geht auf und ein alter Mann kommt rein.
Er hat einen schwarzen Anzug an.
Obwohl es so heiß ist.
Lange Hose, Hemd, schwarzes Jackett.
Seine Haare sind weiß. Sein Gesicht ist zerknittert.
Er stellt sich hinter mich.
Er bohrt seinen Blick zwischen meine Schulterblätter.
Ich kann seinen Blick spüren.
Ich rücke einen Schritt vor.
Er berührt mich am Ellbogen.
Ich drehe mich um.
Er sagt: "Sie sind so klein. Genau richtig für mich."
Ich bin nicht klein. Ich bin einen Meter und
siebenundsechzig Zentimeter groß.
Ist das klein? Nein. Ich sage ihm das.
Ich sage: "Ich bin gar nicht klein."
Er nickt ernsthaft. Er sagt:
Nein, nicht wirklich natürlich.
Sie sind ganz normal.
Aber Sie sind klein genug für meinen Trick.
Ihre Schultern sind schmal.
Sie haben genau die richtige Statur.
Ich brauche eine neue Assistentin.
Ich glaube, Sie sind die Richtige."
Ich frage: "Eine Assistentin für was?"
Ich will das nicht sagen, aber ich sage es.
Er sagt: "Für meine Kiste. Die zersägte Jungfrau in der Kiste.
Eine Assistentin, die ich zersägen kann.
Ich bin Zauberer."
Die Frau an der Kasse sagt: "Der Nächste bitte.
Der Nääächste. Sie sind dran. Ein Domino-Eis.
Darf’s sonst noch was sein?"
Ich sage: "Nein danke."
Ich bezahle das Eis.
Der alte Mann bleibt hinter mir.
Er bleibt dicht an mir dran.
Er sagt: "Darf ich Sie ein Stück begleiten?"
Ich sage: "Sie müssten erst mal bezahlen, oder?"
Er sagt: "Ich habe nicht getankt. Ich habe Sie
durchs Fenster gesehen.
Ich bin vorbei gelaufen, da habe ich Sie gesehen.
Darum bin ich reingekommen."
Die Frau an der Kasse guckt über uns hinweg.
Ihr Blick verrät nichts.
Sie kann mir auch nicht helfen.
Also gehen der Mann und ich zusammen raus.
Er geht schnell für einen alten Mann.
Er ist jedenfalls kleiner als ich. Er ist etwas bucklig.
Er sieht nicht aus wie ein Zauberer.'
Ich sage: "Sie können mich nicht begleiten."
Er sagt: "In Ordnung. Gut. In Ordnung.
Aber überlegen Sie sich das?
Es ist einfach.
Sie müssen sich nur in meine Kiste legen.
Ich zersäge Sie. Ich tue so, als ob.
Und dann setze ich Sie wieder zusammen.
Wir können das ausprobieren.
Sie kommen mich besuchen. Wir probieren es aus."
Ich kenne den Trick mit der Zersägten Jungfrau.
Ich habe das im Fernsehen gesehen.
Ich weiß, wie er funktioniert.
Der Trick ist steinalt. Jeder weiß Bescheid.
Ich sage: "Ich weiß nicht."
Er sagt: "Das verstehe ich.
Machen Sie sich keine Sorgen. Ich verstehe das.
Meine Frau ist dabei. Sie passt auf.
Es wird nichts geschehen.
Sie müssen sich nur hinlegen. Sich ein bisschen
zusammenrollen.
Es ist nicht schwer."
Ich sage nichts.
Er lächelt mich an.
Sein Anzug ist sauber.
Er hat die Hände in den Taschen.
Ihm ist nicht heiß.
Er macht einen gelassenen Eindruck.
Er sagt: "Denken Sie darüber nach.
Kommen Sie zu uns. Gartenstraße 7.
Wir sind eigentlich immer da."
Ich sage: "Ich denke drüber nach."
Dann gehe ich los.
Ich gehe nicht rüber zum Eingang meines Hauses.
Ich gehe in die andere Richtung.
Ich denke, er muss nicht wissen, wo ich wohne.
Ich wickele das Eis aus dem Papier, aber es ist
inzwischen fast geschmolzen.
Es zerläuft. Ich schmeiße es weg.
Eine Woche später gehe ich den Mann besuchen.
Ich habe eine Woche lang darüber nachgedacht.
Ich habe eine Woche lang acht Stunden am Tag neben meiner Zigaretten-Maschine gestanden und darüber nachgedacht.
Es ist anstrengend.
Also suche ich die Gartenstraße auf dem Stadtplan.
Der Mann wohnt am anderen Ende der Stadt.
Unklar, was er hier im Neubaugebiet verloren hat.
Warum er da rumgelaufen ist.
Ich brauche eine Weile, bis ich weiß, was ich anziehen soll.
Ich habe ein rotes und ein blaues Kleid.
Ich ziehe das rote Kleid an.
Ich kämme meine Haare ordentlich.
Ich stehe länger vor dem Spiegel als sonst.
Dann gehe ich los.
Ich muss mit dem Bus fahren.
Mit einem zweiten Bus.
Durch eine Straße mit Ein-Familien-Häusern laufen.
Bungalows hinter Zäunen.
Hollywood-Schaukeln auf Terrassen.
Das Wort Hollywood-Schaukel kommt mir immer komisch vor.
Als ich Kind war, habe ich mir eine gewünscht.
Meinen Eltern war das peinlich.
Hier gibt es jede Menge Hollywood-Schaukeln.
Und prächtige Blumen in Kübeln aus Ton.
Rasensprenger. Autos in offenen Garagen.
Die Wege sind mit Kies bestreut.
Die Leute, die hier wohnen, sind nicht reich und nicht arm.
Sie besitzen einfach etwas.
Ich denke, ich besitze nichts.
Ich habe meine Tasche dabei.
In der Tasche ist mein Geldbeutel und
mein Schlüsselbund, sind meine Zigaretten.
Das ist alles, was ich habe. Alles, was ich brauche.
Ich kann von dieser Gegend aus sofort
in eine andere Gegend gehen.
Der Bungalow des Zauberers ist der letzte in der Straße.
Er sieht nicht anders aus als die anderen Bungalows.
Kein Auto in der Garage.
Hinten im Garten stehen Bäume.
Mit schwarz-weißen Stämmen, hängenden Zweigen.
Die Jalousien vor den Fenstern sind fast geschlossen.
Vielleicht wegen der Hitze.
Ich stehe eine Weile vor dem Haus herum.
Es kann sein, dass ich es mir anders überlegen will.
Dann geht die Tür auf und er kommt raus.
Er hat mich gesehen.
Er kommt mit ausgebreiteten Armen auf mich zu.
Es ist deutlich, dass er sich freut.
Er sagt: »Kommen Sie rein! Kommen Sie rein.
Sie haben darüber nachgedacht. Das ist schön.
Sie sind zu einem Entschluss gekommen.
Das ist wunderbar. Ich freue mich!
Also gehe ich rein. Ich gehe ihm hinterher.
Er hält mir die Tür auf.
Er macht die Tür vorsichtig hinter mir zu.
Der Flur ist schmal.
Er zeigt auf einen Bügel an einer leeren Garderobe.
Es gibt aber nichts, was ich daran hängen will.
Er führt mich ins Wohnzimmer.
Das Wohnzimmer hat eine große Fensterfront zum Garten hinaus.
Mitten im Zimmer steht eine Kiste auf zwei Böcken.
Daneben sitzt eine Frau.
Sie ist sehr alt. Ziemlich zart.
Sie trägt eine Trainingshose und eine Bluse mit einem hohen Kragen.
Ihre Haare sehen aus wie Stahlwolle.
Kurz geschnitten. Struppig und glänzend.
Sie steht auf. Sie reicht mir nicht die Hand.
Sie sagt zu ihrem Mann: "Sie ist nicht wirklich klein."
Er sagt : "Sie ist genau richtig. Du wirst einverstanden sein."
Ich frage : "Warum machen Sie das nicht?
Diese Assistentin. Warum lassen Sie sich nicht zersägen?"
Sie winkt ab.
Sie sagt: "Ich bin zu alt. Die Leute wollen sich so was nicht anschauen.
Er sagt: "So ist das. Sie hat Recht. Setzen Sie sich.
Ich wusste, dass Sie kommen würden. Ich war mir sicher.
Ich wusste, Sie werden darüber nachdenken und
dann werden Sie kommen.
Es ist sehr heiß. Wir trinken etwas. Dann fangen wir an."
Wir trinken Limonade.
Wir sitzen zu dritt um diese Kiste herum und trinken Limonade, die schon in einem Krug auf dem Tisch steht.
Es ist wirklich so, als hätten sie gewusst, dass ich kommen werde.
Die Limonade schmeckt nach Zitrone und Minze.
Nach Sirup.
Es gibt Eiswürfel dazu.
Die Frau vom Zauberer zerkaut die Eiswürfel.
Es knackt laut.
Sie schmatzt. Sie nimmt sich neue Eiswürfel.
Sie sitzt auf ihrem Stuhl und schaukelt mit den Beinen wie ein altes Kind.
Sie legt den Kopf schief und starrt mich an.
Sie fragt: "Was machen Sie so?"
Ich sage: "Ich arbeite in der Zigarettenfabrik."
Sie sagt: "Rauchen Sie?"
Ich sage: "Klar."
"Haben Sie Familie?"
"Nein."
"Niemanden, der auf Sie wartet ? Keinen, für den Sie was tun müssen?"
Ich sage: "Nein. Keiner, für den ich was tun muss."
Sie fragt : "Was ist mit Ihren Eltern?"
Ich sage: "Gibt’s nicht mehr."
Ich habe Eltern.
Aber ich finde nicht, dass sie das was angeht.
Warum will sie das wissen?
Ich denke: Wenn sie mich fragt, ob jemand weiß, dass ich hier bin, stehe ich auf und gehe wieder los.
Aber sie fragt nichts mehr. Sie sieht ihren Mann an.
Ihr Mann lächelt.
Er sagt: "Wissen Sie, wir gehen auf ein Schiff.
Zusammen. Wenn Sie mitmachen.
Wir drei. Meine Frau und ich und Sie.
Auf ein Kreuzfahrtschiff. MS Aurora.
Sie bekommen eine Außenkabine.
Sie können am Bullauge stehen und rauchen.
Mit Meeresblick rauchen.
Wir machen drei Vorstellungen in der Woche.
Die Vorstellungen werden bezahlt.
Das Schiff fährt nach Singapur und zurück.
Ein Vierteljahr lang.
Wie klingt das für Sie?"
Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll.
Ich sehe mich im Wohnzimmer um.
Das Zimmer ist leer.
Es gibt keine Fotos an der Wand. Keinen Nippes auf der Anrichte. Keine Uhr.
Es gibt nur die Stühle, auf denen wir sitzen, den Tisch und diese Kiste.
Sie ist ein bisschen abgeschabt.
Mit blauem Lackpapier und silbernen Sternchen beklebt.
In ihrer Mitte ist ein Spalt.
An ihrem einen Ende eine Öffnung.
Das ist alles.
Der alte Mann sieht zu, wie ich die Kiste ansehe.
Er fragt: "Sind Sie soweit ? Haben Sie noch Durst?"
Ich sage: "Ich bin soweit."
Ich möchte es jetzt gerne hinter mich bringen.
Er sagt: "Das ist schön. Wir fangen sofort an.
Wir fangen jetzt an."
Er steht auf und stellt seinen Stuhl neben die Kiste.
Er sagt: "In der richtigen Vorstellung gibt es
eine Treppe. Eine Parade-Treppe.
Sie tragen ein rotes Kleid. Elegante Schuhe.
Sie steigen die Treppe rauf.
Ich klappe die Kiste auf. Sie klettern rein."
Ich ziehe mir die Flipflops aus.
Ich steige barfuß auf den Stuhl.
Er sagt: "Sie müssen keine Angst haben."
Ich sage: "Ich habe keine Angst. Wovor?"
Er klappt die Kiste auf.
In der Kiste liegt eine Decke.
An der Öffnung klemmt ein Kissen.
Er sagt: "Sie legen sich hin.
Sie stecken Ihren Kopf durch die Öffnung.
Ihr hübscher Kopf bleibt draußen.
Ich schließe die Kiste.
Sie ziehen die Beine an, bis Sie nur noch
in der Hälfte der Kiste stecken.
Seitlich am besten.
Machen Sie es sich bequem. Es ist etwas eng.
Ich bitte um Entschuldigung.
Aber es dauert nicht lange.
Ich zersäge Sie. Ich befreie Sie wieder."
Ich steige in die Kiste.
Ich lege mich auf den Rücken, ich schiebe
den Kopf durch die Öffnung.
Er klappt die Kiste zu.
Ich ziehe die Beine an.
Ich reiße mir einen Splitter ins Knie.
Die Kiste wackelt. Mir ist heiß.
Seine Frau sieht sich das alles an.
Sie sieht hin wie ein Rabe.
Er fragt: "Sind Sie in Ihrer Hälfte angelangt?"
Ich sage: "Bin ich."
Er holt unter der Kiste ein dünnes zackiges Blech heraus.
Er lässt es ein wenig zittern.
Es klingt wie Donner in einem Kasperle-Theater.
Er sagt: "Bei der richtigen Vorstellung machen wir
mehr Eindruck.
Es ist nur eine Probe. Nur eine technische Probe.
Damit Sie Bescheid wissen. Damit Sie wissen,
worum es geht.
Ist alles in Ordnung?"
Ich sage: "Es ist alles in Ordnung."
Er lässt das Blech ein zweites Mal zittern.
Dann hält er es über den Spalt in der Mitte
der Kiste.
Er setzt es da rein.
Er versenkt das Blech in dem Spalt.
Er tut so, als würde er sägen.
Ich kann es an meinen nackten Fußsohlen spüren.
Es kitzelt. Es ist kühl.
Er sagt: "In der richtigen Vorstellung gibt es
ein bisschen Nebel dazu. Und Musik.
Wir machen was mit Licht. Wir illuminieren.
Verstehen Sie? Wir beleuchten das."
Ich sage: "Aha."
Ich liege auf dem Rücken.
Ich habe die Hände auf dem Bauch gefaltet.
Die Knie seitlich angezogen. Es ist etwas unbequem.
Es gibt einen Moment, in dem ich denke:
Ich werde ohnmächtig.
Sie haben mir etwas in die Limonade getan.
Ein Moment, in dem ich denke:
Ich bin in zwei Hälften geteilt. Nicht körperlich.
Eher im Kopf.
Mein Kopf ist in zwei Hälften geteilt.
Ich bin hier und ich bin ganz woanders.
Sehr weit weg.
Dann ist das vorbei.
Er zieht das Brett wieder aus der Kiste.
Er klappt den Deckel auf.
Ich strecke mich. Ich klettere raus.
Ich steige auf den Stuhl und zurück auf den Boden.
Ich sehe mir das Ganze von außen an.
Ich kann mir nicht vorstellen, dass das irgendwen
beeindruckt.
Es ist etwas für einen Kindergeburtstag.
Für eine Anstalt.
Die Frau fragt: "Wie fühlen Sie sich?"
Ich sage: "Wie soll ich mich fühlen. Nicht anders
als davor. Ich fühle mich gut. Wieso fragen Sie
mich das?"
Sie sieht weg. Sie sagt: "Nur so."
Nach einer Weile sagt sie:
"Sie müssen da aber ein bisschen zulegen.
Sie können nicht einfach reinklettern.
Wieder rausklettern.
Sie müssen eine bestimmte Haltung haben.
Sie müssen das ernst nehmen."
Ich sage: "Sie meinen, ich soll da feierlich
reinklettern. Feierlich rausklettern."
Ihr Mann sagt:
"Sie macht das. Sie macht das schon.
Ich weiß, dass sie es gut machen wird.
Die Leute werden begeistert sein.
Sie werden es lieben."
Ich setze mich wieder auf meinen Stuhl.
Wir sitzen noch eine Weile zusammen.
Wir reden nicht mehr viel. Wir schauen
in den Garten raus.
Der Wind geht in diese Bäume.
Er zieht an ihren Ästen. Er lässt ihre Blätter flattern.
Sie sehen nicht mehr aus wie Blätter.
Eher wie Wasser. Hellgrünes, dunkelgrünes,
blaugrünes Wasser.
Wir sehen alle drei hin.
Wahrscheinlich ist das gar nicht der Garten
des Zauberers und seiner Frau.
Wahrscheinlich ist das auch nicht ihr Haus.
Sie sind da nur übergangsweise.
Sie sind auf diesen Schiffen unterwegs.
Mit ihrer Kiste. Und diesem und jenem.
Es ist so still im Zimmer. Ich denke plötzlich,
ich bin taub.
Ich räuspere mich. Ich höre mein Räuspern.
Ich frage: "Was für Tricks gibt es noch?
Was für Tricks machen Sie noch?"
Er nickt höflich. So höflich, dass es mir fast
wehtut.
Er sagt: "Oh, Tricks mit Karten. Mit bunten
Tüchern. Mit Zahlen. Tricks mit Gedanken.
Ich lese sie."
Ich frage: "Keine Tricks mit Hasen?
Keine mit weißen Mäusen?"
Er schüttelt den Kopf und sagt:
"Nein. Keine mit Hasen und mit weißen Mäusen.
Hasen und Mäuse sind auf der MS Aurora
nicht erlaubt."
Er sieht mich an. Ich sehe ihn an.
Seine Kiste ist ein Witz.
Aber um ihn herum ist etwas Regloses, Zähes.
Ich versuche, an nichts zu denken.
Ich bin vielleicht nicht schnell genug.
Er fragt: "Waren Sie schon mal auf einem Schiff.
Für länger?
Haben Sie schon mal eine Schiffsreise gemacht?"
Ich sage: "Noch nie."
Er sagt: "Eine Schiffsreise ist wunderbar.
Sie werden das sehr schön finden.
Es ist entspannend.
Der Blick aufs Meer. Jeden Morgen, jeden Abend.
Sonnenaufgang und Sonnenuntergang.
Das ist ein Geschenk."
Er streckt die Hand aus.
Er sagt: "Sagen Sie zu. Kommen Sie mit uns mit.
Sie haben eine Woche Zeit, um Ihre Sachen
zu packen.
Wir fahren in einer Woche los. Sie müssen
um 12 Uhr mittags am Hafen sein.
Sie können ausschlafen.
In Ruhe einen Kaffee trinken.
Dann gehen wir auf die Reise."
Ich atme ein. Ich gebe ihm die Hand.
Sein Händedruck ist leicht. Seine Hand trocken.
Wie aus Papier.
Seine Frau steht auf.
Ich denke, sie wird auch noch was sagen.
Aber sie sagt nichts. Sie steht nur so da.
Ihre Augen sind schwarz wie Schlehen-Früchte.
Es gibt irgendwie kein Weiß um ihre Iris herum.
Mir kommt das nicht komisch vor.
Ich wundere mich nicht darüber, dass sie mir
nicht die Hand gibt.
In der Woche danach packe ich meine Sachen.
Ich gehe in die Zigarettenfabrik.
Ich drücke mir die Stöpsel in die Ohren.
Ich mache meine Arbeit.
Die Maschine läuft und läuft.
Sie bleibt kein einziges Mal stehen.
Ich sage nicht Mahlzeit.
Ich tue aber so, als würde ich es sagen.
Lautlos, ohne Ton.
Ich denke darüber nach, zum Schichtleiter zu gehen.
Ihm zu sagen, dass ich aufhören werde.
Dass ich nach Singapur fahren werde. Mit der
MS Aurora und als Assistentin eines Zauberers.
In diesem Büro hat noch niemand das Wort
Singapur gesagt.
Ich bin mir sicher.
Ich bin mir auch sicher, dass er mir nicht glauben wird.
Ich denke, ich muss ihm das nicht sagen.
Ich kann auch so gehen. Ich sage niemandem was.
Abends sitze ich lange auf dem Balkon.
Noch länger als sonst.
Die Autos rollen auf die Tankstelle.
Halten an, rollen weiter.
Sie fahren auf die Ausfallstraße und verschwinden.
Ich sehe ihnen hinterher.
Ich sehe runter zur Tankstelle.
Ich denke, der alte Mann wird noch mal vorbeikommen.
Er wird nach mir Ausschau halten.
Er wird sich vergewissern wollen.
Aber er kommt nicht.
Oder ich sehe ihn nicht.
Am Morgen der Abreise stehe ich früh auf.
Ich trinke einen Kaffee.
Ich trinke einen zweiten Kaffee.
Der Himmel ist voller dicker weißer Wolken.
Wolken wie Berge.
Es ist sehr heiß. Drückend, wie vor einem Gewitter.
Windstill.
Ich wasche die Kaffeetasse ab.
Ich drehe den Boiler aus.
Ich mache mein Bett.
Ich ziehe alle Stecker aus den Steckdosen.
Ich schalte den leeren Kühlschrank aus.
Ich klappe ihn auf.
Ich drehe den Haupt-Wasserhahn zu.
Ich stelle meine Tasche in den Flur an die Tür.
Ich setze mich auf den Balkon.
Ich zünde mir eine Zigarette an.
Ich warte auf den Regen.
Gegen Mittag fallen die ersten Tropfen.
Sie lassen den Asphalt dampfen.
Es riecht nach nassem Staub und nach Pflanzen.
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