Literatur
Der weißeste Himmel
Seit 75 Jahren lebt ein Mann in seiner Wohnung, dann kommt eine Journalistin zu Besuch. Eine Kurzgeschichte von Katharina Bendixen
Illustration einer Frau, die in einem Wohnzimmer steht. Neben ihr sitzt ein Mann in einem Sessel
Jolanda Zürcher
Gert Mothes
15.05.2025
15Min

Das waren keine Kinder mehr, die in der ­Hitze des Hinterhofs hockten. Es waren vier Jugendliche, sie hatten eine karierte Decke vor sich ausgebreitet und darauf lagen eine Warnweste und Kuscheltiere, Gläser und Stifte und Taschenmesser in allen erdenklichen Größen. Beim Anblick der Messer beschleunigte ich meinen Schritt.

"Wollen Sie was kaufen?", rief mir ein Mädchen zu.

"Meinst du mich?" Ich blieb lieber nicht stehen.

"Vergiss die", sagte ein Junge. "Die hat keine Zeit."

Ich hatte wirklich keine Zeit: Ich war mit Nick ­Bertelsen verabredet. Das Klingelschild war teilweise verbrannt, zum Glück stand die Haustür offen. Auf den Fahrstuhl wartete ich vergeblich, also lief ich die Treppen zu Fuß. An einer Tür in der sechsten Etage fand ich den richtigen Namen. Ich klingelte kurz und, weil sich nichts regte, noch einmal etwas länger. Es blieb still, und ich näherte mein Gesicht der Tür. Mein Spiegelbild im Spion bekam eine riesige Nase und schmale Augen. Überall Monster, dachte ich, und klingelte ein drittes Mal, die Welt war voller ­Monster, und man musste sich einreden, dass man selbst eine Ausnahme war.

Als sich die Wohnungstür öffnete, zog ich den Kopf schnell zurück. Nick Bertelsen war klein und schmal, mit kahlem Schädel und großen Ohren, mit einer alten Jogginghose und einem T-Shirt, dessen Nähte nach außen zeigten.
"Herr Bertelsen?", fragte ich.

"Sie sind zu zeitig", sagte er. "Warum kommen Sie so zeitig?"

Gert Mothes

Katharina Bendixen

Katharina Ben­dixen schreibt ­Bücher für Kinder, Jugend­liche und ­Erwachsene. Im Frühjahr 2025 ­erschien ihr neuer ­Erzählband "Eine zeitgemäße Form der Liebe" (Edition Nautilus), in dem sie sich mit Care-Arbeit und ­Elternschaft auseinandersetzt.

Er wandte sich um. Auf seinem Hinterkopf wuchs ­weißer Flaum, und die offene Tür schien zu bedeuten, dass ich ihm folgen durfte. Der Flur war heiß und feucht und voller Möbel, die die Worte des alten Mannes fast verschluckten. Nur halb hörte ich, was er sagte – dass es ihm ja egal sei, wann ich käme, aber seine Tochter, die störe das, die frage ihn abends immer nach den Uhrzeiten. Und er würde seine Tochter nicht anlügen, er würde ihr sagen, dass meine Kollegin heute wieder zu spät gekommen sei, erst um 10 Uhr 30, und wenn ich schon um 14 Uhr käme – "Es war schon jemand da?" Trotz der Hitze zitterten mir die Finger.

"Sag ich doch, um 10 Uhr 30", sagte der alte Mann und dass seine Tochter sich irgendwann beschweren würde, denn wenn ihm die Kompressionsstrümpfe erst um 10 Uhr 30 angezogen und um 14 Uhr schon wieder aus­gezogen würden, dann müsse er sie auch gar nicht – "Sie verwechseln mich", sagte ich. "Ich bin nicht vom Pflegedienst."

"Sind Sie nicht?" Der alte Mann blieb mitten im Wohnzimmer stehen.
"Ich schreibe den Artikel über Sie", erklärte ich, "für das Mietermagazin, wir haben letzte Woche telefoniert."

Die Augen des alten Mannes waren ungewöhnlich hell. Auf dem Fensterbrett hinter ihm standen mehrere Orchideen in voller Blüte, und dahinter lag der Hof mit den Jugendlichen, denen sicher niemand etwas abkaufen würde.

"Im Grunde habe ich nur fünf oder sechs Fragen", sagte ich. "Es geht ganz schnell. Aber vielleicht warten wir auf Ihre Tochter. Sie hatten sich ja gewünscht, dass sie bei ­unserem Gespräch dabei ist. Wohnt sie auch hier?"

"Ist das schon die erste Frage?" Der alte Mann ließ sich in einen Sessel fallen. "Wieso stehen Sie eigentlich herum? Hat man Ihnen das so beigebracht?"
"Es sind ganz leichte Fragen." Vorsichtig, als könnte der Stoff zerreißen, setzte ich mich auf das Sofa. "Zuerst würde ich gern wissen, ob Sie sich noch an Ihren Einzug erinnern."

"Was wollen Sie wissen?" Der alte Mann schüttelte ­entschieden den Kopf. "Ich habe gesagt, dass Sie vorbeikommen können. Von Fragen war nicht die Rede." Er kniff die Augen zusammen, dann hellte sich seine Miene plötzlich auf. "Ich rede nur mit Ihnen, wenn Sie eine Telefon­nummer für mich raussuchen."
"Das geht sicher", sagte ich. Ich wollte mich anlehnen, aber dafür war das Sofa zu breit. "Ihr Einzug ist ja 75 Jahre her, wie hat man das damals eigentlich gemacht? Hatten Sie ein Umzugsunternehmen?"

"Meine Tochter hat die Nummer aus meinem Handy gelöscht", sagte der alte Mann. "Und den Pflegerinnen hat sie verboten, mir die Nummer zu nennen. Sie haben doch ein Smartphone?"

Ich nickte. Ich hätte mich wirklich gern angelehnt.

"Wissen Sie", sagte der alte Mann und zeigte auf das Fenster. "Als meine Frau und ich hier eingezogen sind, stand vor diesem Fenster eine Birke. Meine Frau hat den Kinderwagen unter die Äste gestellt, meine Tochter hat das später genauso gemacht. Unser Enkel konnte sich dann die Blätter ansehen. Wissen Sie, wie Birkenblätter ­aussehen? So was wissen die jungen Leute ja nicht mehr. Ich sage es Ihnen: Sie sind wie Herzen geformt. Wenn sich die Birkenblätter über ihm bewegten, ist unser Enkel immer eingeschlafen." Der alte Mann lächelte. "Nach den großen Stürmen musste die Birke gefällt werden. Aber heute kann man seinen Kinderwagen sowieso nicht mehr im Hof abstellen. Die Leute würden ihn einfach klauen. Man kann von Glück sagen, wenn sie vorher das Baby rausnehmen."

Ich nickte wieder. "Und was hat sich Ihrer Meinung nach in den vergangenen 75 Jahren sonst noch verändert?"

"Ist das die nächste Frage?", sagte der alte Mann. "Nichts hat sich verändert. Die Birke wurde gefällt, das ist alles. Und die Sache mit dem Kinderwagen behalten Sie bitte schön für sich. Seit zehn Jahren hat sich mein Enkel hier nicht blicken lassen, da muss er jetzt nicht in Ihrem Aufsatz auftauchen."

"Und die Eigentümerwechsel?", fragte ich. "Das Viertel wurde ja mehrmals verkauft, da gab es doch sicher auch Veränderungen."

"Was soll sich schon verändert haben?", fragte der alte Mann wieder. "Ich habe gearbeitet, jetzt bin ich in ­Rente. Und letzte Woche bin ich gestürzt, deshalb schaffe ich es nicht mehr nach draußen. Suchen Sie mir jetzt die ­Nummer heraus? Für welche Zeitung schreiben Sie Ihren Aufsatz eigentlich?"

"Wie gesagt", sagte ich, "der Artikel ist für das Mietermagazin. Das Heft, das jeden zweiten Monat in Ihrem Briefkasten liegt, wissen Sie? In der letzten Ausgabe klebten zwei Tüten mit Blumensamen."

"Das können dann alle lesen, die hier wohnen? Das ­haben Sie mir am Telefon aber nicht gesagt!"

"Eigentlich habe ich das gesagt." Ich spürte, wie sich an meiner Schläfe ein Schweißtropfen löste. "Wollen Sie lieber nicht –"

"Was kümmern mich schon die Nachbarn?", fragte der alte Mann. "Ich hole Ihnen erst einmal etwas zu trinken."

"Aber ich –"

"Ich sehe doch, dass Sie schwitzen", widersprach der alte Mann. "Mit Eiswürfeln?"

"Ich kann aber auch selbst –"

Der alte Mann lachte. "Sie finden sich in meiner Küche nicht zurecht!"
"Und Ihre Tochter? Die kommt sicher gleich?", fragte ich. "Vielleicht kann die das übernehmen?"

Aber der alte Mann drückte sich schon hoch, und dann hangelte er sich erstaunlich schnell von der Sessellehne zu einem Pflanzkübel, von dort zu einer Vitrine und dann zum Türrahmen. Kurz darauf klapperte in der Küche das Geschirr, und ich schob die Hände unter meine Oberschenkel, damit sie endlich aufhörten zu zittern.

"Kuscheltiere! Gläser!", riefen die Jugendlichen im Hof. "Sonderangebot! Nur heute!"

Der alte Mann kam mit einem Glas Mineralwasser und einer Untertasse zurück, auf der er einen Proteinriegel in kleinen Stücken arrangiert hatte. Er schwankte, und einen Moment lang hatte ich Angst, dass er doch noch stolperte. Aber er stellte beides erstaunlich sanft auf dem Couchtisch ab. Er musste früher schöne Hände gehabt haben, mit langen schmalen Fingern und glatten, runden Fingernägeln.

"Bitte sehr", sagte er stolz.

Der Riegel war mit einem dünnen weißen Belag bedeckt und das Wasser entpuppte sich als bittersüße Zitronenlimonade, die vielleicht schon etwas zu lange im Kühlschrank stand. Aber wenn ich Antworten wollte, musste ich essen und trinken. Ich zog auch die zweite Hand unter meinem Oberschenkel hervor, und während ich kaute und schluckte, verschwand das Zittern.

"Jetzt gehen wir noch mal 75 Jahre zurück", sagte ich. "Warum haben Sie sich ausgerechnet für diese Wohnung entschieden?"

"Wie meinen Sie das?", fragte der alte Mann. "Der Mensch muss doch wohnen, und diese Wohnung stand eben leer. Warum zieht man in eine Wohnung? Weil sie leer steht, oder nicht?"

"Oder weil sie den richtigen Schnitt hat", sagte ich. "Weil sie gut gelegen ist, weil in der Nähe Freunde leben – es gibt doch verschiedene Gründe."
"Papperlapapp." Der alte Mann winkte ab.

"Also haben Sie nie darüber nachgedacht, woanders zu wohnen?", fragte ich. "Sie wollten immer in diesem Haus bleiben, kann ich das in meinem Artikel so schreiben?"

"Schreiben Sie, was Sie wollen", sagte der alte Mann. "Haben Sie eigentlich meine Orchideen gesehen? Mein Fenster geht nach Westen, das können Sie schreiben. Oder Sie schreiben, dass die Orchideen meiner Frau gehörten. Meine Tochter hat nicht geglaubt, dass die Orchideen bei mir länger als eine Woche überleben. Aber Sie sehen ja, wie gut es ihnen geht. Welche Farbe finden Sie am schönsten?"

"Die Gelben gefallen mir", sagte ich leise.

"Die mag ich auch am liebsten!", rief der alte Mann.

"Nur eine Frage noch", sagte ich. "Wie würden Sie junge Leute wie mich davon überzeugen, hier einzuziehen?"

"Wieso überzeugen?", fragte der alte Mann. "Ziehen Sie doch einfach ein! Ich glaube, im dritten Stock steht gerade eine Wohnung leer. Und meine Wohnung wird ja auch bald frei." Er zog eine Grimasse. "Nein, ich will niemanden mehr überzeugen. Wenn Sie so alt sind wie ich, dann ­wissen Sie, dass die Dinge sich von einem Tag auf den anderen ändern können. Was heute richtig ist, ist morgen schon falsch. Suchen Sie mir jetzt die Nummer heraus?"

"Das mache ich", sagte ich und griff nach meinem Smartphone. Meine Finger zitterten wieder, und meine Wangen glühten. "Wonach soll ich suchen?"

Der alte Mann schwieg plötzlich, und ich sah, wie ­draußen am Fenster etwas vorbeiflog. Es war ein Glas, eines der ­Jugendlichen musste es hoch in die Luft geworfen haben. Im nächsten Moment sauste es wieder nach unten. Es klirrte und jemand heulte leise auf.

"Welche Nummer brauchen Sie?", fragte ich.

"Sie dürfen keinen falschen Eindruck von mir ­bekommen", sagte der alte Mann leise. "Ich bin eher durch Zufall auf das Snugglehome gestoßen. Also, ich habe schon danach gesucht, aber –"

Er verstummte, und von meinem Smartphone ­lächelten mich drei Frauen an. Unter ihrem Oberkörper standen ihre Namen und ganz oben las ich: "Snugglehome. Ihr Dienstleis­ter für körperliche Nähe." Überall Monster, dachte ich wieder, und Mons­ter waren zu nichts bereit und zu allem in der Lage.
"Ich habe die Nummer", sagte ich. "Soll ich sie diktieren?"

"Würden Sie sie gleich eintippen?" Der alte Mann zog ein Handy aus seiner Hosentasche. Es war ein altes Modell, mit zehn ­Tasten für die Ziffern und zwei Tasten für den roten und den grünen Hörer, mit einem grauen Display und einem Cursor, der blinkte und blinkte und blinkte. Wahrscheinlich war auf der Welt nichts einfacher, als die Tasten zu ­entsperren, aber ich wusste nicht, wie das ging.

"Und wenn Sie mein Telefon benutzen?", fragte ich. "Sie müssen nur den grünen Hörer berühren, sehen Sie?"

Der alte Mann schüttelte den Kopf. "So ein Gerät hatte ich noch nie in der Hand."

"Das wäre sogar besser", sagte ich. "Auf Ihrem Handy kann Ihre Tochter den Anruf nachverfolgen. Vielleicht kontrolliert sie die Anrufliste?"

Wieder war es still. Der alte Mann blickte meine Hände an, die jetzt wieder zitterten. Die Falten um seinen Mund, dachte ich, waren zart wie Sonnenstrahlen.

"Können Sie vielleicht anrufen?" Seine Stimme war heiser. "Sie müssen nach Liska fragen, und dann sagen Sie, dass es Nick leidtut. Sagen Sie, dass Nick den Termin nicht absagen konnte, weil er gestürzt ist. Weil er im Krankenhaus gelegen hat, er war sogar zwei Tage auf der Palliativ –" Der alte Mann unterbrach sich. "Es geht nur um Umarmungen, haben Sie das verstanden?"
"Ja", sagte ich. "Das haben Sie schon gesagt."

"So ein Hausbesuch", fragte der alte Mann, "meinen Sie, der ist wesentlich teurer als eine halbe Stunde vor Ort?"

"Wer sind Sie? Was machen Sie hier?"

Die Frau, die im Türrahmen stand, trug die gleiche ­Jogginghose wie der alte Mann und ein weites T-Shirt, und sie sah dem alten Mann auf eine fast lächerliche Weise ähnlich, nur dass ihre Augen dunkler waren.

"Sofort raus mit Ihnen!", rief sie. "Hast du es doch noch geschafft, deine Liska anzurufen? Welche Pflegerin hat dir geholfen? Sag schon, wer hat dir die Nummer ge­geben?"

"Sie verwechseln mich", sagte ich. "Ich bin die Jour­nalistin."
"Welche Journalistin?"

"Ich schreibe den Artikel über Ihren Vater", sagte ich. "Weil er doch seit 75 Jahren hier lebt und damit der längste Mieter –"

"Entschuldigen Sie!" Als die Tochter lachte, wurden ­ihre Augen doch noch hell. "Wie konnte ich das ­vergessen? Dass mein Vater auf seine alten Tage noch in die Zeitung kommt! Er hat mir gar nicht gesagt, dass Sie heute ­vorbeikommen. Hör mal, warum hast du mir das nicht gesagt?"

Beide blickten wir zu dem alten Mann. Seine Augen waren geschlossen, seine langen, schlanken Hände lagen in seinem Schoß, und ich entdeckte auf seinem T-Shirt ein paar Essensreste, die mir bisher nicht aufgefallen waren.

"Er wird immer schnell müde", sagte die Tochter. "Was genau wollen Sie denn wissen?"

"Eigentlich sind wir durch", sagte ich. "Ihr Vater hat mir alles erzählt."

"Wirklich? Wie schade", sagte die Tochter. "Ich wollte Ihnen auch etwas erzählen, ich lebe ja auch schon seit ­ 61 Jahren hier. Als Kind war ich immer im Hof, aber ­solchen Unsinn wie die Jugendlichen da unten habe ich mit ­meinen Freunden nicht angestellt. Allerdings hatten wir den großen Spielplatz, den gibt es ja leider nicht mehr. Das meiste gibt es nicht mehr, keine Sportkurse für die Bewohner und keine Sommerfeste. Die Tombolas waren immer schön, wissen Sie? Meinen Mann gibt es auch nicht mehr, und einmal bin ich unten im Hof überfallen ­worden. Aber ich wohne gern hier, mein Vater auch. Wir sind ­dankbar für unsere Wohnungen. Soll ich Ihnen ein Glas Wasser bringen?"

"Ich habe schon Limo", sagte ich.

"Na, hoffentlich ist die nicht verdorben", sagte die ­Tochter.

Mit einem Schlag öffnete der alte Mann die Augen.

"Das stimmt nicht", sagte er.

"Natürlich sind deine Sachen manchmal verdorben", sagte die Tochter. "Und dein T-Shirt trägst du auch wieder verkehrt herum."

"Ich bin für gar nichts dankbar", sagte der alte Mann. "Wofür denn? Für den Müll im Treppenhaus? Für den Fahrstuhl, der nie funktioniert?"

"Kommen Sie deshalb nicht mehr nach draußen?", fragte ich. "Ich könnte das vielleicht meinen Vorgesetzten –"

Ich verstummte, denn ich hatte plötzlich Liskas Gesicht vor mir. Liska Walker hatte unter einer der drei Frauen gestanden, und Liska schwitzte sicher nicht.
"Sind Sie immer so blass?", fragte die Tochter.

"Meinen Sie mich? Bin ich blass?" Ich fuhr mir über die Wangen. "Ich habe eher das Gefühl, dass ich glühe."

"Sie hätten die Limo nicht trinken sollen", sagte die Tochter. "Und was auch immer auf dieser Untertasse lag, haben Sie das etwa gegessen?"

"Es ist sehr heiß hier drinnen", sagte ich.

"Das liegt an den Orchideen", sagte die Tochter. "Vor ­seinem Sturz standen sie oben auf der Schrankwand. Da- nach habe ich sie ins Fensterbrett gestellt, jetzt kann man leider nicht mehr lüften. Vielleicht legen Sie sich kurz hin?"

"Das ist gut", sagte ich.

Ich streifte mir die Schuhe von den Füßen und legte mich auf das Sofa. Die Zimmerdecke über mir war mit weißen Styroporplatten beklebt.

"Die Platten hat er selbst drangeklebt, das ist keine zwei Jahre her", sagte die Tochter. "Und haben Sie sich die Orchideen richtig angesehen? Dafür hat er wirklich ein Händchen. Mir war allerdings immer klar, dass er eines Tages von der Leiter fällt. Man kann in dem Alter doch nicht jeden Tag auf die Leiter klettern, um die Orchideen auf der Schrankwand zu gießen! Immer bin ich tausend Tode gestorben, wenn ich nach der Schicht den Schlüssel ins Türschloss gesteckt habe. Ich habe gewusst, dass es eines Tages schiefgeht."
"Und?", fragte der alte Mann mit geschlossenen Augen. "Lebe ich noch?"
"Du lebst noch", sagte die Tochter. "Zum Glück."

Ich schaute immer noch zur Decke. Die Platten waren so akkurat geklebt, als wären Handwerker hier gewesen. Ich fragte mich, was Liska Walker von Nick Bertelsen wusste. Ob sie wusste, dass er geschickt wie ein Handwerker war und dass er ein Händchen für Orchideen hatte, und wenn sie wirklich einen Hausbesuch machte, wo würde sie sich mit ihm hinlegen, vielleicht auf das Sofa, auf dem ich gerade lag?

"Gleich geht es wieder", sagte ich.

"Ruhen Sie sich aus", sagte die Tochter. "Es ist schön, dass Sie sich Zeit für meinen Vater genommen haben. Offenbar haben Sie den richtigen Ton getroffen. Sonst redet er mit niemandem, und das ist richtig so. Die Welt ist voller Betrüger. Aber ich muss jetzt los, ich muss mich duschen und umziehen. Ich nehme nur noch den Müll mit, ist das in Ordnung?"

"Natürlich", sagte ich. "Ich gehe auch gleich los."

"Ziehen Sie dann einfach die Tür ins Schloss?", fragte die Tochter. "Aber warten Sie bitte, bis es Ihnen wieder besser geht." Sie verließ das Zimmer, aber vom Flur aus steckte sie den Kopf noch einmal herein. Sie sprach jetzt sehr leise. "Nur noch eins – mein Vater hat Ihnen bestimmt erzählt, dass ich meine Mutter ins Pflegeheim gegeben ­habe. Ins Pflegeheim gesteckt, hat er wahrscheinlich gesagt, und deshalb ist sie so schnell gestorben. Wenn sie ­hiergeblieben wäre, sagt er immer, wenn sie in der ­Wohnung geblieben wäre, dann würde sie noch leben. Davon steht doch nichts in Ihrem Artikel?"

"Keine Sorge", sagte ich.

"Danke."

"Ich will nur noch eine Minute hier liegen", sagte ich, "dann gehe ich."

In der Küche raschelte es, dann fiel die Wohnungstür ins Schloss. Es war wieder still. Selbst die Jugendlichen auf dem Hof waren verstummt. Vielleicht waren sie in ihre Wohnungen gegangen, um ihren Müttern beim Abwasch zu helfen. "Sie dürfen keinen falschen Eindruck von meiner Tochter haben", sagte der alte Mann. "Sie ist ein guter Mensch."

"Das merkt man", sagte ich.

"Nein, das merkt man nicht", sagte der alte Mann. "Wenn sie nicht so viel um die Ohren hätte, wäre sie anders. Erst hat sie ihre Mutter gepflegt und jetzt bin ich von dieser dummen Leiter gefallen. Jeden Tag steht sie zehn Stunden am Fließband. Danach kommt sie hierher und denkt, dass ich tot auf dem Boden liege, und jedes Mal lebe ich noch."

"Ich kann jetzt anrufen", sagte ich. "Soll ich anrufen?"

"Lieber nicht", sagte der alte Mann.

"Warum nicht?"

"Sie sollten lieber meinen Enkel anrufen", sagte der ­alte Mann. "Sagen Sie ihm, dass er sich bei seiner Mutter melden soll. Er soll, verdammt noch mal, seine Mutter besuchen."

Ich drehte den Kopf zur Seite und unsere Blicke trafen sich. Der alte Mann hatte wirklich sehr helle Augen, und die Falten um seinen Mund waren ganz zart. Bestimmt wusste Liska das alles. Bestimmt war es ihr sofort aufgefallen, nur ich wusste nichts. Ich wusste ja nicht einmal, ob ich mir Liskas Gesicht richtig gemerkt hatte. Ich wusste nicht, wie sie den alten Mann umarmte, ob zart oder fest. Ob sie das gern tat. Ich wusste nicht, ob sie hierherkommen würde, in diese Wohnung, oder ob das zu teuer wäre. Weil der Fahrstuhl defekt war. Ob das extra kostete, wenn der Fahrstuhl defekt und das Treppenhaus voller Müll war.

Katharina Bendixen: Eine zeitgemäße Form der Liebe. Edition Nautilus, 184 Seiten, 22,00 Euro

Eine Ladung Wasser rauschte durch die Rohre, dann war es wieder still. Niemand sagte etwas, weder der alte Mann noch ich. Auch als ich meine Hand nach ihm ausstreckte, sagten wir nichts. Seine Hand war weicher als jede Hand, die ich bisher gehalten hatte, weicher als die Hand meines Vaters, als die Hand meiner Mutter, als die Hände meiner Schwestern. Hand in Hand saßen wir in diesem Zimmer, und über uns prangten die Styroporplatten, ein ordentlicher Himmel, ein akkurater Himmel, der weißeste ­Himmel, den ich jemals gesehen hatte.

Ich hatte nichts, womit ich meinen Artikel füllen konnte, aber daran dachte ich in diesem Moment nicht. Ich dachte daran, dass ich den Jugendlichen etwas hätte abkaufen sollen, kein ­Messer, aber vielleicht die Warnweste oder ein Kuscheltier oder zumindest ein Glas, das ich später hoch in die Luft ­geworfen hätte, denn dann hätte ich immerhin etwas gehabt, nämlich das Wissen, dass es wieder herunterfiele, die Sicherheit, dass es mit einem lauten Klirren auf dem Boden zerspränge.

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