chrismon: Mehr junge Menschen wählen extrem rechte Parteien, vor einigen Wochen flog sogar eine rechtsextremistische Terrorgruppe auf, der Jugendliche angehören. Verschiebt sich etwas in der Jugend?
Annika Schreiter: Ja, und das schon seit längerer Zeit. Alle erschraken über die Ergebnisse der U18-Wahlen, die an vielen Schulen vor der Bundestagswahl im Februar stattfanden. Mich ärgert die Aufregung darüber.
Annika Schreiter
Warum? Der Rechtsruck ist doch alarmierend!
Natürlich, aber das ist alles nicht plötzlich passiert, sondern hat sich lange angekündigt. Schon bei den Ergebnissen anderer U18-Wahlen in den vergangenen Jahren schnitt die AfD immer besser ab. In der politischen Jugendbildung warnen wir schon sehr lange vor dieser Entwicklung. Aber es passiert sehr wenig, um den Trend zu stoppen. Man hätte schon vor Jahren offensiv mit politischer Bildung und Demokratiebildung in die Schulen gehen müssen. Das Gegenteil ist passiert. Mich wundert eher, dass der Rechtsruck bei Jugendlichen so spät kam.
Wie meinen Sie das?
Die Reaktion auf die langen Schulschließungen während der Corona-Pandemie war: "Wir müssen den Stoff in Kernfächern wie Mathe nachholen!" Das kann ich aus der schulischen Logik heraus auch verstehen. Aber dadurch ist etwas ins Rutschen geraten, weil über politische Bildung fast gar nicht mehr gesprochen wurde – und das in einer Situation, in der besonders die Grundrechte von jungen Menschen massiv eingeschränkt wurden.
Die Pandemie brach vor mehr als fünf Jahren aus – und wirkt immer noch nach?
Ich mache viele Projektwochen mit Jugendlichen zum Thema DDR-Geschichte, dazu lade ich Zeitzeugen ein. Zur Vorbereitung frage ich die Jugendlichen: Wofür seid ihr Zeitzeugen? Früher taten sich alle schwer mit einer Antwort, heute kommt sofort die Aussage: "Wir haben die Pandemie miterlebt!" Diese Zeit war für die jungen Menschen ein krass einschneidendes Erlebnis, über das sie immer sehr lange mit mir reden möchten.
Was hören Sie in diesen Gesprächen?
"Wir mussten lange zu Hause bleiben, keiner hat sich für uns interessiert." Für Menschen, die nun 18 oder 20 Jahre alt sind, ist viel in die Brüche gegangen. Ihr Vertrauen in Institutionen, in die Politik, in die Demokratie hat gelitten.
Die Politik scheint sich eher darauf zu verständigen, dass Smartphones und Social Media das Problem seien. Es gibt Debatten darüber, den Zugang für junge Menschen zu regulieren. Sind die sozialen Netzwerke der Grund für den Rechtsruck bei den Jungen?
Soziale Netzwerke sind ein Raum, in dem Jugendliche noch mit Politik in Berührung kommen. Die wenigsten nutzen gezielt Nachrichten oder lesen Tageszeitungen. Deshalb kann Social Media auch ein guter Ort sein, um die Themen der jungen Menschen sichtbar zu machen.
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Aber?
Auf der anderen Seite ist die Qualität der Quellen in den Netzwerken schon für Erwachsene schwierig einzuschätzen. Ich habe neulich bei einem Projekttag mit jungen Menschen sehr lange darüber diskutiert, was der Unterschied zwischen einer journalistischen und einer parteipolitischen Quelle ist. Es reicht nicht aus, einer Partei zu folgen und dann zu denken, dass man die Welt versteht. Es ist zwar gut, wenn man sich mit Parteien auseinandersetzt. Aber es ist eben nur eine Perspektive und es braucht journalistische Stimmen, die Positionen einordnen und weitere Perspektiven aufmachen.
Also geht es eigentlich darum, Schulfächer wie Medienkompetenz einzurichten?
Es ist absolut richtig, junge Menschen medienkompetenter zu machen. Aber gleichzeitig braucht es Rahmenbedingungen, die gewissen Dingen Grenzen setzen. Nicht Social Media an sich sind problematisch, sondern die Wild-West-Mentalität, die dort herrscht. Populismus hat es auf Social Media viel einfacher als seriös recherchierte Informationen. Gute Bildungsinhalte auf Tiktok zu machen, ist super schwierig. Denn sobald man da anfangen möchte zu differenzieren, sind die Leute weg. Die Nutzenden entscheiden innerhalb von drei Sekunden, ob sie sich ein Video angucken oder nicht. Da hat man es natürlich mit einer populistischen These viel leichter. Tiktok belohnt die großen Vereinfacher. Social Media haben einen Anteil daran, dass Jugendliche ins Rechtsextreme abgleiten, aber ein Smartphone-Verbot wird die nächste U18-Wahl nicht retten.
Welche Faktoren haben dann zu der Entwicklung geführt? Schließlich gelten Jugendliche eigentlich als progressiv und eher links …
Das ist ein Trugschluss. Junge Menschen orientieren sich stark an ihrem sozialen Umfeld, also an ihren Eltern, an ihren Großeltern, an Onkeln, Tanten, an Nachbarinnen. Wenn man in einem Umfeld aufwächst, in dem alle AfD wählen, und in einem Dorf wohnt, in dem keine anderen Plakate mehr hängen, wirkt sich das auch auf die Jugend aus. Zudem ist das Umfeld vieler Jugendlicher durch die große Ungleichheit in unserer Gesellschaft geprägt. Die kann man nicht mit Heftpflastern wieder zukleben.
Benennen die Jugendlichen so klar, dass Ungleichheit ein Problem ist?
Das Thema begegnet mir jedes Mal, wenn ich in Schulen unterwegs bin, die nicht gerade gutbürgerlich geprägt sind. Ich war im Januar in einem Berufsbildungswerk, das war kurz vor der Bundestagswahl. Wir redeten über Entwicklungshilfe. Und die Jugendlichen meinten, die müssten wir streichen. Deutschland sei ein armes Land, wir könnten nichts abgeben. Das waren junge Menschen, die in ihrer Umgebung nur Mangel erleben. Die saßen in einem Gebäude, in dem der Putz von der Wand bröckelte. Ihre Eltern waren oft schon in zweiter Generation arbeitslos. Sie selbst saßen in einer Berufsförderungsmaßnahme. Es ist ziemlich unwahrscheinlich, dass viele von ihnen es auf den ersten Arbeitsmarkt schaffen. Und dann soll ich denen erzählen, dass Deutschland ein reiches Land ist?
Was haben Sie stattdessen gemacht?
Zugehört. "Wir haben selbst nichts, wir können niemanden reinlassen." Und: "Wir haben nichts, wir können nicht in irgendwelchen anderen Ländern Fahrradwege bauen." – Solche populistischen Narrative verfangen bei benachteiligten Jugendlichen. Ich habe versucht, zu differenzieren: Es gibt genug Geld in diesem Land, aber es ist katastrophal falsch verteilt. Oder: Die Partei, der ihr da hinterherlauft, wird an der Vermögensverteilung erst recht nichts ändern, sondern dieses Problem noch verschärfen. Mit jungen Menschen über Gerechtigkeit zu sprechen, ist immer eine Herausforderung, aber auch ein Schlüssel, um in Gesprächen weiterzukommen. Denn schon in der Grundschule ist Gerechtigkeit das erste politische Thema, auf das Kinder anspringen.
"Das, was zwischen dir und der Willkür steht, ist die Demokratie und ist der Rechtsstaat."
Annika Schreiter
"Der hat mich geschubst und keiner macht was!"
Genau. Kinder und Jugendliche sind viel sensibilisierter dafür als wir Erwachsenen. Die bekommen das sehr genau mit. Sie sehen die Unterschiede zwischen Arm und Reich, die teilweise in den Klassen oder zwischen Schulen und Schulformen richtige Spannungen auslösen. Leider versagt die Demokratie bei diesem Thema derzeit. Ein großes Versprechen der Demokratie ist die Gleichheit. Klar, eine gewisse Ungleichheit gibt es in einer demokratischen Gesellschaft immer. Aber wenn diese Spanne zu groß wird, steht das ganze System auf der Kippe. Die jungen Leute merken, wenn sie veräppelt werden.
Haben Sie dafür ein Beispiel?
Die Menschen bekommen mit, dass an allen Ecken und Enden gespart werden muss, aber für manche Sachen ist auf einmal ganz schnell Geld da. Auch für so manche Wahlversprechen, die Parteien den Seniorinnen und Senioren machen. Die Älteren bilden die größte Wählergruppe, während junge Menschen in der Minderheit sind. Mit einer Bildungsreform oder mit mehr Geld für Jugendverbandsarbeit lässt sich keine Wahl gewinnen.
Was können wir gegen den Rechtsruck tun?
Gute Sozialpolitik machen, die tatsächlich darauf schaut, dass die Ungleichheit nicht noch weiterwächst. Und offensive politische Bildung auf vielen Ebenen anbieten. Und zwar nicht als Institutionenkunde, die Leuten von oben herab erklärt, wie eine Wahl funktioniert. Es muss eine politische Bildung sein, die demokratische Werte vermittelt und die Menschenwürde ins Zentrum rückt. Ich komme bei meiner Arbeit immer dann voran, wenn ich den jungen Menschen ehrlich klarmache, dass die Demokratie zwar an manchen Stellen überhaupt nicht gut funktioniert, sie aber trotzdem das einzige System ist, das die Würde des Menschen garantiert, weil sie der Willkür einen Riegel vorschiebt. Mit diesem Thema habe ich häufig Erfolge – gerade auch mit Jugendlichen, die weit nach rechts außen abgedriftet sind.
Was sagen Sie denen?
Das, was zwischen dir und der Willkür steht, ist die Demokratie und ist der Rechtsstaat. Und wenn das weg ist, gewinnt nur noch der Stärkere. Und nun überlege mal, ob du der Stärkere bist? – So eine Aussage hilft, um darüber ins Gespräch zu kommen, welche Werte ein gutes Zusammenleben garantieren können.
Was können die Kirchen tun?
Die Kirche muss ihre zivilgesellschaftliche Rolle hochhalten. Gerade eine schrumpfende Kirche darf sich nicht in ein frömmelndes Gemeindeleben zurückziehen, sondern muss sich immer wieder vor die Menschen stellen, die keine Lobby haben. Sie muss das Kirchenasyl hochhalten, sich um benachteiligte Menschen kümmern. Und auf junge Menschen zugehen, die wenig Bildungsangebote haben.