Japanische Religion
Die unverkrampfteste Religion der Welt
Sie wuchs religiös auf, hat den Glauben aber verloren. Dabei soll Religion den Menschen ja guttun! Die Autorin Katja Lewina versucht sich im Shintoismus
Illustration eines Tempels
Malombra76 / Getty Images
Julija Goyd
01.07.2025
7Min

Zweimal verbeugen, zweimal klatschen, dann innehalten – so ungefähr schien es zu gehen. Ich reckte meinen Hals, um zu sehen, wie es die Menschen vor uns machten, die zum Gebet am Nogi-Jinja-Schrein in Tokio anstanden. Es war Silvesterabend, fast dämmerte es bereits, und eigentlich hatten mein Freund und ich gerade etwas essen wollen. Doch dann hatten Papierschnipsel, die von dem Zugang zu einer Schreinanlage her auf den Bordstein wehten, unsere Aufmerksamkeit geweckt. Offenbar war hier gerade ein Fest gefeiert worden: Geschäftige Schreindiener sammelten die Papierchen auf, Besucher fotografierten sich gegenseitig vor zu segnenden Sake-Fässern.

Das Essen konnte warten, so etwas bekommt man nicht alle Tage zu sehen. Und natürlich hatten wir dieser besonderen Stätte unsere Ehre erwiesen, ganz wie die anderen Besucher es uns vormachten: waren an jedem Torii-Tor, das den Übergang vom weltlichen zum spirituellen Raum symbolisiert, kurz stehen geblieben und hatten uns verbeugt.

"Willst du beten?", hatte mein Freund gefragt. Warum nicht?, dachte ich mit Blick auf die vor dem Schrein ­ordentlich aufgereihten Menschen. Mitmachen ist aufregender als zugucken, und das Vaterunser betete ich schließlich in der Kirche auch immer mit, selbst wenn ich nicht daran glaubte.

Julija Goyd

Katja Lewina

Katja Lewina, 1984 in Moskau geboren, ist Journalistin und Buchautorin. Sie schreibt Kolumnen bei "Spiegel online" und im "Stern". Von ihr erschienen unter anderem die Bücher "Sie hat Bock", "EX" und "Was ist schon für immer" (alle bei DuMont).

Dabei hatte ich, was Religiosität angeht, eigentlich die volle Ladung abbekommen: orthodox getauft im ­sowjetischen Moskau der 80er Jahre, aufgewachsen mit den mennonitisch-altertümlichen Gepflogenheiten meiner Großmutter, evangelisch konfirmiert in der ­westdeutschen Provinz, dann noch der Besuch eines ­katholischen ­Gymnasiums – ich war das ökumenische Gesamtpaket, ein christlicher Vierkampf in Person. Der Pfarrer meiner Jugend wäre stolz zu hören, dass ich später auch noch ­Religionswissenschaft studierte, und weniger stolz vielleicht, dass ich Religionen schon damals eher mit dem Interesse einer Anthropologin betrachtete – und selbst dieses in kürzester Zeit nachließ.

Über die Jahre hatte sich mein Glaube wie von selbst ­verflüchtigt. Biblische Geschichten wurden zu kulturellen Artefakten, Kirchen zu architektonischen Schönheiten, Glaubensbekenntnisse zu etwas, an das ich mich zwar ­erinnerte, das aber keinen Bezug zu mir hatte. Hatten die Menschen ihre Religionen nicht irgendwann ­erfunden, um mit dem Nicht-begreifen-Können ihres Daseins ­umzugehen? Mit Anfang 30 dann der Kirchenaustritt. Es war vorbei.

Ein Moment der Fokussierung

Und nun stand ich da als neugierige Euro­päerin inmitten von Japanern und versuchte, mir zusammenzureimen, wie das mit dem Beten hier eigentlich geht. Am ­hölzernen Wasserbecken, das vor dem Schrein postiert ist, ­hatte das schon mal funktioniert: mit Hilfe der ­Kelle erst die rechte Hand waschen, dann die linke Hand, ­Wasser in die linke Hand, Mund ausspülen, wieder ­linke Hand waschen, Restwasser die Kelle hinunterlaufen ­lassen. Nach ein, zwei Durchgängen hatten wir die Sache auch hier raus: Fünf-Yen-Münze in den Opferkasten, zweimal tief verbeugen, zweimal in die Hände klatschen, um die Aufmerksamkeit des Kami (der dem Schrein zugehörigen geistigen Wesenheit) auf sich zu lenken, innehalten, Schlussverbeugung, abtreten – und das Ganze in weniger als einer Minute, schließlich warten da noch andere. Also klatschte ich, als ich an der Reihe war, verbeugte mich und – betete. Zu wem oder was, wusste ich nicht. Aber zu meinem Erstaunen fühlte es sich gut an. Beruhigend. Ein Moment der Fokussierung, das Bewusstsein voll und ganz ausgerichtet auf etwas, das mir wichtig ist.

In den kommenden Wochen besuchten wir im ganzen Land Dutzende weiterer Schreine – von gewaltigen ­Anlagen über verlassene Dorfschreine bis hin zu winzigen Klein­oden zwischen Wolkenkratzern. Überall dieselben ­Rituale, überall dieselbe Selbstverständlichkeit. Was aus ­einer ­Mischung aus Höflichkeit und Forschergeist ­begonnen hatte, wurde zum Genuss; ich fing an, diese Momente der Stille zu suchen. Und stellte nebenbei fest: Der Shintoismus ist vermutlich die unverkrampfteste Religion der Welt.

Seine Ursprünge verlieren sich im Dunkel der japanischen Frühgeschichte. Er ist eine animistische Religion ohne scharfe Trennlinie zwischen dem Natürlichen und dem Übernatürlichen. Im Shintoismus gibt es keinen allmächtigen Schöpfergott, keine heilige Schrift, keine Erbsünde. Stattdessen bevölkern, so glaubt man, ­unzählige Kami (Naturgeister, lokale Schutzgottheiten, vergöttlichte Ahnen) die Welt. Sie leben in Bergen und Flüssen, in alten Bäumen und besonderen Steinen und werden in eigens für sie errichteten Schreinen verehrt, manche an ­Hunderten von Orten, andere nur lokal. Auch kleine Opfergaben gehören dazu: Schälchen mit Reis oder Salz, Wasser, ein Fläschchen Sake. Die Gaben stehen oft auf kleinen Altartischen vor dem Allerheiligsten und werden, als kleine ­Gesten der Aufmerksamkeit, regelmäßig erneuert.

Über 80 000 Schreine sind im Land registriert (die zahllosen informellen oder privaten Schreine also nicht mal mitgezählt), jeder ist autonom und wird von einer ­lokalen Gemeinde getragen. Ein Schrein ist aber nicht wie eine Pfarrei oder Gemeinde, der man "angehört". Man besucht den, der zum Anliegen oder zur Situation passt, zum Beispiel für Prüfungen, Hochzeiten, Kinderwunsch, Gesundheit. Doch nicht nur das macht das System extrem alltagsnah: Es gibt keine Dogmen, keinen Absolutheitsanspruch und keine Verpflichtung zum Glauben. Ein Japaner kann problemlos shintoistische Rituale praktizieren und gleichzeitig buddhistische Feste feiern oder sich christlich trauen lassen (wenn man ihn lässt).

Auch der Shinto­ismus hat dunkle Kapitel

Doch das war nicht immer so. Auch der Shinto­ismus hat dunkle Kapitel – etwa seine Verflechtung mit dem japanischen Nationalismus in der Meiji-Zeit und die Unterdrückung des Buddhismus, der staatlich geförderte Kaiserkult oder die ideologische Instrumentalisierung im Zweiten Weltkrieg. Die enge Bindung von Shinto und Staat ist inzwischen aufgehoben, doch sie wirkt nach. Und wie jede Religion, die den ­Menschen in eine Beziehung zu etwas Größerem setzt, stellt auch der Shintoismus Fragen nach Haltung und Res­pekt, nach dem richtigen Leben. Ein reines Wohlfühlprogramm ist er ganz sicher nicht. Und doch macht praktisch jeder irgendwie mit, egal ob junges Pärchen im Cosplay-Kos­tüm, Businessman im slicken Anzug oder grauhaarige Omi: Man besucht Schreine zu bestimmten Anlässen, nimmt die saisonalen Feste mit und holt sich zum Neujahr frische Glücksbringer.

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Dass die Natur eine zentrale Rolle spielt, zeigt sich in der Lage der Schreine, oft in ­Wäldern oder mit Blick auf Berge und ­Wasserfälle gelegen. In den heiligen Bäumen, die mit Seilen aus Reisstroh umwickelt sind. In den Jahresfesten, die die Rhythmen der ­Natur feiern: Kirschblüte, Reisernte, Sonnenwende. In ­einer Zeit ökologischer Krisen kann die shintoistische Idee von der Natur als einem Reich des Heiligen eine spirituelle Grundlage für nachhaltiges Handeln bilden. Dennoch: Die Welt ist hier kein Jammertal, das es zu überwinden gilt, sondern ein Ort voller Wunder und Schönheit. Während viele andere Religionen das Diesseits als bloße Vorstufe zum Jenseits betrachten, feiert der Shintoismus das Hier und Jetzt. Was er allerdings nicht bietet, sind Antworten auf die existenziellen Fragen des Lebens. Er erklärt nicht, warum wir leiden oder was nach dem Tod kommt. Er löst keine moralischen Dilemmata. Aber er hat Rituale, die Halt geben und trösten können.

Es ist ein Privileg, sich in eine fremde Tradition stürzen zu können

Und auch wenn ich mich beim Mitmachen nie respektlos fühlte – die Frage nach kultureller Aneignung steht unausgesprochen im Raum. Denn natürlich ist es ein Privileg, sich in eine fremde Tradition stürzen zu können, ohne ihre Geschichte, ihre Zwänge, ihre Verpflichtungen mitzutragen. Ganz sicher bewegt man sich da auf einem schmalen Grat zwischen Neugier und Naivität, zwischen Resonanz und romantisierender Projektion. Wie eine Aneignung fühlte es sich dennoch nicht an, sondern vielmehr wie ein vorsichtiges Annähern – mit Respekt, mit Staunen, mit der Gewissheit, dass ich Außenstehende bleibe. Und vielleicht ist das der ehrlichste Anfang von allem: das Wissen, dass man etwas berührt, ohne es besitzen zu wollen. Und dass man trotzdem etwas für das eigene Leben daraus mitnimmt.

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Mit jedem Schreinbesuch verstand ich besser: Das Beten zwingt zur Pause, zur Konzentration auf den ­Moment. Es schafft einen Raum außerhalb des Alltags. Das ­Händewaschen – ein Symbol für einen Neuanfang. Das zweimalige Klatschen – ein Übergang von der ­profanen Zeit in einen besonderen Moment. Die Verbeugungen – eine Haltung der Demut und des Respekts. Wie nur würde ich mir in Deutschland solche rituellen Anker schaffen können?, fragte ich mich und erwog sogar, an einem der bekannteren Schreine ein kleines Torii zu erstehen, das mich ans Beten erinnern sollte. Doch was sollte dieses Touristensouvenir bei mir zu Hause? Selbst wenn ich in irgendeiner Ecke meines Zimmers versuchen wollte, ­einen Hausschrein zu improvisieren, würde er ­niemals die originale Sakralität transpor­tieren können. Und mit billigem Abklatsch gebe ich mich nicht zufrieden. Dann lieber: eines Tages wiederkommen und weiterbeten.

Doch das "eines Tages" fing schon ­einige Wochen nach meiner Rückkehr an zu drücken. Zu Hause, wo der Alltag mich mit voller Wucht erwischte, sehnte ich mich umso mehr nach Momenten des Innehaltens, der Dankbarkeit und der Reflexion. Und ich fand diese Momente – überraschenderweise in so etwas Ähnlichem wie dem allabendlichen Gebet meiner Kindheit. "Müde bin ich, geh zur Ruh", hieß meine Großmutter mich aufsagen. Und obwohl im Nachtgebet von Luise Hensel aus dem Jahr 1816 auch um Schutz gebeten und der Familie gedacht wird, blieb mir damals vor allem eines im Bewusstsein: Gottes Gnade angesichts meiner Sündhaftigkeit.

Die interessiert mich heute zum Glück gar nicht mehr. Doch wenn ich meine Gedanken vor dem Zubettgehen sammle und an die denke, die ich liebe, und an das, was ich herbeisehne, dann, so merke ich immer wieder, bin ich gar nicht mal so weit entfernt von den Intentionen, die Luise Hensel in ihr Gebet gelegt hat. Innehalten, an andere denken, sich selbst infrage stellen: Dafür braucht man keine göttliche Instanz. Aber manchmal offenbar einen kleinen Umweg.

Und noch etwas habe ich mir angewöhnt: Ich sitze vor einem neuen Text, der Buchhaltung, einem überfüllten E-Mail-Postfach? Erst mal klatschen. Nicht, um Kami zu ­rufen, sondern um meine Aufmerksamkeit zu ­fokussieren. An die Wesenheiten glaube ich nach wie vor genauso ­wenig wie an einen Gott. Komisch ist nur, dass meine Tochter, seit ich aus Japan zurück bin, von nichts anderem redet als einer Katze, die wir uns bitte, bitte anschaffen müssen – und der letzte Schrein, den ich in Tokio besucht habe, einem Katzen-Kami gewidmet war. Zufall? ­Vielleicht. Aber seitdem, das muss ich zugeben, klatsche ich noch ein bisschen andächtiger.

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