Diesen Text schreibe ich für alle Menschen, die in ihrem Leben Gewalt erlebt haben und dadurch körperlich oder seelisch schwer beschädigt wurden. Die meisten von ihnen werden noch nie vom Sozialen Entschädigungsrecht (SGB XIV) gehört haben, welches zwar die Folgen dieser Gewalttaten nicht heilen, jedoch einen erheblichen finanziellen Ausgleich schaffen kann. Auch ich hätte davon nichts geahnt, wäre nicht an Neujahr 2024 in den Hauptnachrichten verkündet worden, dass dieses Gesetz, welches bis dahin "Opferentschädigungsgesetz" hieß, modernisiert wurde.
Zum Glück lief mein Fernseher, und ich wusste sofort: Diese Meldung wird mein Leben zum Positiven verändern! Ich sprang vom Sofa und recherchierte im Internet. Einen Tag später sandte ich meinen Antrag auf Soziale Entschädigung ab und sezierte in den nächsten Tagen jeden einzelnen Paragrafen dieses Gesetzes.
Natürlich muss man in diesem Antrag Angaben zu den traumatischen Ereignissen und deren Folgen machen. Das lässt sich nicht leicht niederschreiben. Hässliche Erinnerungen tauchen auf. Die brutalen Schläge, denen ich ausgesetzt war, liegen sehr lange zurück. Sie bestimmten meine Kindheit, Jugend und mein gesamtes Leben, doch das konnte ich in seiner Unausweichlichkeit lange nicht erfassen.
"Meine Kindheit durchlebte ich in Todesangst und Panik"
Ich komme aus einer gewalttätigen Familie. Mein Vater war ein Choleriker, Sadist und Schläger. Seine unberechenbare, explodierende Wut ließ er an meinen Geschwistern und mir aus. Meine Kindheit durchlebte ich in Todesangst und Panik, beständige Liebe habe ich nie erfahren. Schon im Kindergarten war ich völlig eingeschüchtert und sprach nur das Nötigste. Mit acht Jahren wollte ich sterben. Alpträume quälten mich. Weil es keine Rettung gab, flüchtete ich in Märchenbücher und Träumereien.
Orientierungslos durchs Leben
An meinem laufenden Versagen in jeder Hinsicht war natürlich ich allein schuld – so sah das mein Vater, so sah ich es selbst. Im Jugendalter entwickelte ich eine Bulimie, ohne von diesem Begriff je gehört zu haben, und schämte mich dafür noch mehr.
Bis in meine Dreißiger trieb ich wie ein Herbstblatt durch den Wind: von einer Männer-Abhängigkeit zur anderen, ohne Ausbildung, mit abgebrochenem Studium, arbeitslos, ideenlos, kraftlos, ratlos, einsam. Ich las Selbsthilfebücher, absolvierte Gesprächstherapien, wurde kurzzeitig in Kriseninterventionszentren und Psychiatrien aufgenommen und flüchtete schnell zurück in meine Wohnung, weil ich mich nur dort wirklich sicher fühlte.
"Es sollte kein Riss in meiner Fassade zu erkennen sein"
Eines Tages, hoffte ich, würde ich so sein wie alle anderen in meinem Alter, die ihr Studium abgeschlossen hatten und begannen, Familien zu gründen. Nach außen hin bemühte ich mich nach Kräften, den Anschein einer normalen, berufstätigen Frau zu erwecken. Über die Jahre sammelte ich einen Grundstock teurer Klamotten. Dass sie Secondhand waren, sah ja keiner. Vor meinen seltenen Terminen verbrachte ich Stunden damit, jedes Härchen zu richten, die Schuhe zu polieren. Es sollte kein Riss in meiner Fassade zu erkennen sein.
Erst mit Mitte dreißig gelang es mir, meinem Dasein eine gerade Linie zu geben, als ich begann, für Zeitungen und Zeitschriften zu schreiben, was ich danach Jahrzehnte tat. Sogar kleine Preise heimste ich ein. Doch wie will man eine anständige Rente erwirtschaften, wenn man Tage braucht, um sich zu überwinden, eine fremde Person anzurufen? Wenn man vor jeder größeren Gruppe scheut? Wenn man mitten im Gespräch mit Auftraggebern, die einem Angst einflößen, Blackouts hat? Wenn man sich ständig als Zaungast unter den Menschen fühlt und von einem drohenden Bankrott in den nächsten taumelt? Ich lebte auf Treibsand.
Kinderlos, ohne enge Beziehungen, ohne Geld
Trotzdem glaubte ich noch, eines Tages werde mein Leben gut ausgehen wie ein Märchen. Da war mir noch nicht klar, dass mir meine sozialen Phobien und Panikattacken für immer im Weg stehen würden.
So ist es gekommen: Heute bin ich fünfundsechzig, kinderlos, ledig, ohne enge Beziehungen. Wegen meiner mickrigen Rente stehe ich immer noch laufend vor dem finanziellen Ruin und finde keine Ruhe. Dieses Gesetz ist meine einzige Hoffnung auf ein Alter in Würde.
Nachdem ich den Antrag gestellt hatte, wies ich eine alte Freundin, die mit ähnlichen Lebensproblemen kämpfte, darauf hin. Zuerst wollte sie sich damit nicht auseinandersetzen, doch dann bestätigte sich meine Ahnung: Auch ihre Kindheit war eine einzige Grausamkeit gewesen. Um in ihrem Antrag ihren lang verstorbenen Vater der Gewalt zu bezichtigen, musste sie große Hürden überwinden. Zum Glück konnte ihre Schwester alles bezeugen.
Schmerzhafte Erinnerungen
Seitdem halten wir uns gegenseitig über den Bearbeitungsstand unserer Anträge auf dem Laufenden. Mittlerweile sind vierzehn Monate vergangen, in denen das Versorgungsamt Zeugen anschrieb, Arztbriefe anforderte, unsere Ansprüche prüfte und grundsätzlich bejahte. Allein diese amtliche Anerkennung entlastete mich stark von dem nagenden Gefühl eigenen Versagens, das mich seit der Kindheit begleitet.
Der nächste Schritt war eine psychiatrische Begutachtung, in der festgestellt werden sollte, wie hoch meine Schädigungsfolgen zu bewerten sind. Dies ist für jede geschädigte Person ein schmerzhafter Termin. Zwangsläufig haucht er den alten Traumata wieder Leben ein, schließlich will die Ärztin alles ganz genau wissen. Als ich ihr Zimmer verließ, hatte ich schwere Kopfschmerzen, und tagelang flackerten kleine, böse Glutnester in meiner Seele auf.
Gestern endlich traf dieses Gutachten bei mir ein. Zu meiner grenzenlosen Erleichterung wird mir darin ein "Grad der Schädigung" von 30 bescheinigt, dazu ein "Grad der Behinderung" von 60.
Auf den positiven Bescheid und entsprechende Zahlungen werde ich weitere Monate warten müssen, aber schon jetzt steht fest, dass ich monatlich eine steuerfreie Entschädigung von vierhundert Euro erhalten werde. Noch viel wichtiger ist der Berufsschadenausgleich, der in die Tausende gehen wird, ebenfalls monatlich und steuerfrei.
Auch der Bescheid meiner Freundin wird mit Sicherheit positiv sein. Das schwarze Loch der Altersarmut wird sich für uns endgültig schließen. Wir können aufhören zu kämpfen und uns zur Ruhe setzen. So gesehen gehen unsere Geschichten zuallerletzt doch noch gut aus. Es bleibt die Frage, warum in all den Jahrzehnten keine Therapeutin, kein Facharzt meine Freundin oder mich auf die Möglichkeit einer staatlichen Opferentschädigung aufmerksam gemacht hat.
Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales bietet die offizielle Broschüre zum Sozialen Entschädigungsrecht zum Download an.