"I carry Naloxone". Tasha Withrow hat das T-Shirt selbst designt. So signalisiert sie anderen, dass sie Naloxon dabeihat, ein Medikament, das bei Überdosen Leben retten kann
Tasha Withrow hat das T-Shirt selbst designt. So signalisiert sie anderen, dass sie Naloxon dabei hat, ein Medikament, das bei Überdosen Leben retten kann
Milan Koch
Opioid-Krise in den USA
Sie hat ein Gegenmittel
Naloxon hilft bei Überdosen. Tasha Withrow trägt immer welches bei sich – um Opioidabhängigen im Notfall das Leben zu retten. Eine Reise durch die Appalachen, wo die US-Drogenkrise besonders heftig ­verläuft
Lena FiedlerMichael Heck
Milan KochMilan Koch
22.01.2025
13Min

Eigentlich wollte Tasha With­row, 38, nie Drogen nehmen. Das hat sie sich geschworen, als sie wieder einmal wach in ihrem Bett liegt und nicht schlafen kann. Ihre Mutter schmeißt gern Partys. Die Gäste sind laut, manchmal gewalttätig. Schon als Kind versteht sie, was die Überbleibsel im Badezimmer bedeuten. Das Pulver auf der Ablage und der gerollte Geldschein. Deswegen hasst Tasha Drogen und die Leute, die sie nehmen. Bis sie etwa 16 Jahre alt ist. Da wird ihr alles zu viel. Sie fängt selbst an, Gras zu rauchen, Ecstasy zu nehmen; aus dem ­Medizinschrank im Haus ihrer Freundin klaut sie Hydrocodon, ein Schmerzmittel. Sobald sie high ist, gehen sie und ihre Freundin zum Walmart und ­rennen durch die Gänge.

Lena FiedlerMichael Heck

Lena Fiedler

Lena Fiedler, geboren 1991, ist freie Journalistin. Sie hat Theaterwissenschaften, Komparatistik und Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation in Berlin und Kopenhagen studiert und schreibt gern über gesellschaftlichem Wandel, die Folgen (digitaler) Transformationen und das Ruhrgebiet. Lena Fiedler lebt in Berlin und Essen.
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Milan Koch

Milan Koch ist Absolvent der Ostkreuzschule für Fotografie, lebt und arbeitet in Berlin.

Als Tasha 21 Jahre alt ist, besorgt sie für ­ihre Mutter Kokain. Manchmal nehmen sie zusammen eine Line in der Küche, Mutter und Tochter. Als Tasha die Weisheitszähne ­gezogen werden, verschreibt ihr der Zahnarzt Oxycontin, viel davon. Das erste Mal auf Opioiden fühlt sich für Tasha an, "wie eine Umarmung Gottes". Die Wunden im Mund heilen, die Pillen nimmt Tasha weiter. Die Ärzte ­haben sie verteilt wie Süßigkeiten, erinnert sie sich. Als sie mit den Pillen aufhören will, hat sie höllische Schmerzen. Was ist nur falsch mit mir, fragt sie sich. Dann begreift sie: "Oh Shit, ich glaube, ich habe es mit den Pillen übertrieben."

Tashas Weg zu den Drogen ist typisch für die Opioidkrise in den USA. Sie begann 1996 mit der Einführung des Schmerzmittels Oxycontin. Das Arzneimittelunternehmen Purdue Pharma der Familie Sackler drückt dieses Schmerzmedikament mit dem Versprechen in den Markt, dass es weniger abhängig mache als andere Opiate. Ein falsches Versprechen.

In der Wohnung der erwachsenen Tasha hängen gerahmte Bilder an der Wand. Auf einem sieht man sie als kleines Mädchen im Ballettrock und rosa Strumpfhosen. Sie strahlt stolz in die Kamera. Sie war als Kind die meiste Zeit glücklich, erinnert sich Tasha. Bis sie mit 13 zu ihrer Mutter zieht. Die bekommt mit ihrem neuen Mann zwei weitere Kinder, auf die Tasha aufpasst. "Meine Mutter wollte arbeiten und auf Partys gehen, nicht die Verantwortung der Mutterrolle."

Tasha weiß heute, dass es auch zu viel Verantwortung für einen Teenager war. "Es war hart und im Nachhinein glaube ich, dass das der Grund war, warum ich mit Drogen ­angefangen ­habe." Die Drogen waren wie ein Puffer ­zwischen ihr und dem Leben. Es war ihre Art, mit dem Druck, dem Stress und den Depressionen umzugehen. "Ich habe meiner Mutter nie sagen können, dass ich drogenabhängig bin", sagt sie. Trotz ihrer eigenen Fehler habe die Mutter hohe Erwartungen an andere. Und wer ­süchtig ist, sei in den Augen der Mutter: schwach. "Ich wollte immer ihren Respekt, habe mich in ihrer Anwesenheit gefühlt, als würde ich auf Eierschalen laufen."

48,5 Millionen Amerikaner haben Probleme mit Drogen

Derzeit geht die US-Suchtbehörde SAMHSA davon aus: 48,5 Millionen Amerikanerin­nen und Amerikaner über 12 Jahren haben Probleme mit Drogen. 2023 sind 107 543 ­Menschen in den USA an einer Überdosis ­gestorben, 74 702 davon an synthetischen ­Opioiden. In den Vereinigten Staaten sind Überdosen inzwischen die häufigste Todes­ursache, daran sterben mehr als durch Schusswaffen und Autounfälle zusammen.

Purdue Pharma vermarktete das Medikament zu Beginn gezielt in den Appalachen, bedingt durch Bergbau und Stahlindustrie leben dort viele chronisch kranke Menschen. Die Krise bahnte sich langsam einen Weg Richtung ­Norden. Arbeiter­familien, deren ­Lebensunterhalt ­traditionell von körperlich anstrengender ­Industriearbeit abhing, waren nicht nur die ersten Opfer des Opioidmissbrauchs, sie ­leben auch in ­Gegenden mit schlechter ­medizinischer Versorgung. Ärzte und Therapieangebote sind nur durch stundenlange Fahrten erreichbar. Wer keine ausreichende ­Krankenversicherung hat, muss Schulden machen, um die ­Behandlung zu bezahlen.

"War on Drugs" – ein Drogenprogramm aus den 1970ern. Damit ging man gegen Drogenhandel und -konsum vor. Viele Abhängige landeten im Gefängnis statt in einer Therapie. Eine Tüte (rechtes Bild) mit lebensrettendem Naloxon, hier das Medikament Narcan, auf dem Rücksitz

Der Staat reagierte auf die Epidemie nur schleppend. 2017 rief Donald Trump zwar den nationalen Gesundheitsnotstand aus, gab aber keine zusätzlichen Bundesmittel frei, um Antidrogenprogramme zu ­finanzieren. "Der beste Weg, Drogenabhängigkeit und ­Überdosierungen zu verhindern, ist, die ­Menschen vom Drogenkonsum ­abzuhalten", sagte Trump damals. "Wenn sie nicht damit anfangen, werden sie auch kein Problem ­haben." Im Wahlkampf 2024 kündigte Trump an, das Drogenproblem in den Griff zu bekommen, indem er illegale Einwanderung bekämpfe. Dass Trump mit dieser ­Maßnahme Erfolg haben wird, ist zweifelhaft: Amerikanische Bürger schmuggeln mehr Fentanyl über die Grenze als Einwanderer.

Als Oxycontin aus dem Verkehr gezogen wird, bietet Tashas Dealer ihr stattdessen ­Heroin an. Es ist günstiger und leichter zu bekommen. Aber: Man will immer mehr davon. Tasha braucht in dieser Zeit etwa 200 Dollar pro Tag. Sie leiht sich Geld von Bekannten oder stiehlt es. Ihre Mutter bekommt davon nichts mit, bis Tasha auch Geld von ihr nimmt. Am Ende hat sie keine Wohnung mehr, kein Auto, keinen Job, keine Freunde. "Ich habe für nichts anderes mehr gelebt, als high zu werden." Als sie kurz vor Wintereinbruch auf der Straße sitzt, meldet sie sich bei einer Entzugsklinik an. Die hat aber keine Betten mehr frei.

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Heute fragen sich viele Hinterbliebene, was man hätte tun können, um die Ausbreitung zu stoppen. Eine Reise durch die Appalachen zeigt, dass die USA ein Land sind, in dem es leichter ist, abhängig zu werden, als eine Therapie zu bekommen. In dem Süchtige stigmatisiert und unsichtbar gemacht werden. In dem es aber auch Menschen gibt, die Verantwortung übernehmen und Hilfe anbieten. Sie gründen Vereine, um Säuglinge durch den Entzug zu bringen, eröffnen Entzugskliniken und verteilen Naloxon, ein Mittel, das bei einer Überdosis Leben retten kann.

Derek Hudson ist einer von denen, die Verantwortung übernehmen. Als er an einem Sonntagmorgen im September die große Kirch­tür aufschließt, steht schon eine Schlange von Menschen davor. Seit 2021 betreibt er in Charleston, West Virginia eine Einrichtung für Menschen, die Hilfe brauchen: SHOP. Und das ist dieser Ort hier auch, ein Laden, der alles hat, aber nichts kostet. SHOP steht für Showers + Healthcare Outreach Program, ein niedrigschwelliges Angebot mit Duschen und Gesundheitsversorgung.

Der 45-jährige Hudson führt herum, gibt nebenbei den Freiwilligen routiniert Anweisungen, wünscht den Stammgästen einen guten Morgen. Man kann sich gut vorstellen, dass er Menschen in Not Sicherheit vermittelt. Im Lager zeigt er Binden, ­Zahnbürsten, Decken, Taschen und klein verpackte Regenjacken. Alles ordentlich in durchsichtigen ­Plastikboxen mit Beschriftung aufbewahrt. Die Einrichtung ist simpel, aber sehr ­sauber und sortiert. An jeder Tür kleben Zettel mit Anweisungen und Regeln. Im nächsten Raum stehen Schließfächer, für die Leute, die duschen wollen. Wohnungslose Menschen werden oft beklaut, erklärt Hudson. Gerade Frauen nutzen die Duschen gern – Privatsphäre, die sie sonst nicht haben. Im ­nächs­ten Raum ­stehen Garderobenständer mit Kleidung. ­Eine Frau mit rasiertem Kopf und rot gefärbtem Pferdeschwanz schlendert die Kleiderständer entlang und probiert ein paar Sachen an, wie in einem Secondhandladen.

"Der Schlüssel ist Geduld"

Derek Hudson

Mit 15 Jahren war bei Derek Hudson eine unheilbare Krankheit diagnostiziert worden. Obwohl seine Chancen nicht gut standen, hat er einen Masterabschluss geschafft. "In der Gegend, in der ich aufgewachsen bin, gab es so etwas noch nicht." Weil er länger lebt als ­prognostiziert, nutzt er die gewonnene Zeit. Sein Grundsatz: So viel Gutes tun, wie wir können, solange wir können.

Auch Nicole (links) hat immer wieder versucht, von den Drogen loszukommen. Sie arbeitet nun im SHOP von Derek Hudson, der Job gibt ihr Sicherheit. Auf einem Krankenhausparkplatz in Huntington steht ein Behälter für gebrauchte Spritzen

Die Räume für SHOP hat Hudson für kleines Geld von einer presbyterianischen Kirche gemietet, die ihn in seinem Engagement unterstützt. Es gehe ihm nicht darum, jeden von der Straße oder von den Drogen wegzuholen. Stattdessen geht es darum, das Leben der Menschen pragmatisch zu verbessern. Man kann hier duschen, sich aber auch juristisch beraten lassen. Oder schnell mit Unterstützung einen Antrag für Medicare ausfüllen, die Krankenversicherung für Bedürftige. Wenn der Draht zu den Menschen erst mal da ist, kann man ihnen auch darüber hinaus helfen. "Der Schlüssel ist Geduld", sagt Hudson.

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Zum Beispiel Nicole. Die 34-Jährige mit den blonden Locken kam vor ­einigen Monaten selbst noch täglich in die Einrichtung. Irgendwann hat Hudson sie gefragt, ob sie nicht hier arbeiten wolle. Nicole sagte zu. Sie hatte einige Monate auf der Straße gelebt. ­Immer wenn sie geglaubt hatte, ihr ­Leben wieder unter Kontrolle zu haben, ­hatte ihr ­Expartner sie überredet, es noch mal zu ­versuchen. Doch mit dem Ex waren auch die ­Drogen wieder da. Als Nicole mit blauen ­Flecken und Prellungen zu SHOP kam, ließ Hudson sich von ihren Ausreden nicht ab­wimmeln, sagt Nicole. Seit sie hier arbeitet, geht es ihr besser. Der Job bei SHOP bringe zwar nicht viel Geld, aber Sicherheit, sagt sie: "Es ist toll, Teil von etwas zu sein." Kürzlich hat sie ­einen persönlichen Meilenstein erreicht: Sie hat ihren Expartner bei der Polizei angezeigt.

Sobald Hudson das Vertrauen von Hilfs­bedürftigen erlangt hat, bietet er einen HIV- und einen Hepatitis-Test an. In Charleston und anderen Städten, die stark von der Opioid­krise betroffen sind, steigen die Zahlen für diese Erkrankungen drastisch. Allein Anfang September hatte Hudson drei positive HIV-Fälle. Hilfreich wäre es, wenn er saubere Spritzen und andere Konsumartikel anbieten könnte. Doch das steht in Charleston unter Strafe. Das städtische Programm, in dem Konsumierende alte gegen neue Spritzen tauschen konnten, wurde 2018 eingestellt, der Antrag auf ein neues von den Ratsmitgliedern letztes Jahr abgelehnt. Viele Einrichtungen, die getestet und Spritzen getauscht haben, wurden geschlossen. Seither werden weniger Daten an das Gesundheitsamt gemeldet. Ehrenamtliche Initiativen wie die von Derek Hudson erfassen Infektionskrankheiten – eigentlich eine staatliche Aufgabe.

Fatal, sagen Hudson und Co, weil ihre Programme Kontaktstellen für Hilfesuchende seien, die man sonst nur schlecht erreiche. Donald Trumps Wiederwahl ist für Hudson frustrierend. Sie gefährde Obdachlose und alle anderen vulnerablen Menschen, von ­denen viele in seine Einrichtung kommen. Wie Trump genau die Drogenpolitik der USA verändern wird, könne er noch nicht einschätzen. Die Tatsache, dass Trumps Bruder an ­einer Abhängigkeit gestorben ist, gebe ihm ein ­wenig Hoffnung.

Auch für Tasha With­row war die Wiederwahl Trumps ein Schock. "Er kann jederzeit die Mittel für den HIV-Service kürzen", sagt Tasha. Mehr Sorgen mache sie sich aber über die Landesregierung von West ­Virginia, die künftig von dem republikanischen ­Gouverneur Patrick Morrisey angeführt wird. In den frühen 2000er Jahren hat Morrisey als Lobbyist für einen Verband der Pharmaindustrie gearbeitet. Und damit ­Unternehmen vertreten, die später für ihre Rolle in der Opioidkrise verklagt wurden.

Drogenpräventionspolitik ist in den USA ein sehr umstrittenes Thema. Drogenabhängigkeit wird gesellschaftlich oft nicht als Krankheit anerkannt. Wer abhängig ist, dem fehlt es an Moral, der trifft schlechte ­Entscheidungen – so die Annahme. Außerdem wird die politische Antwort auf die Opioidkrise vielerorts noch durch das Maßnahmenpaket "War on Drugs" von 1972 dominiert: Polizei und Kommunen versuchen, primär gegen den Handel und den Konsum illegaler Drogen vorzugehen. Die Folge: Viele Drogenabhängige landen im Gefängnis statt in einer Drogentherapie. Spritzenprogramme zum Beispiel werden mit dem Argument beendet, dass diese zum Konsum anregten. Und viele Anwohner stören sich daran, solche Initia­tiven in unmittelbarer Nähe zu haben, sogenannte ­Nimbys, kurz für "Not in my Backyard": Bitte nicht in meinem Hinterhof.

Der Gegenentwurf zum "War on Drugs" nennt sich "Harm Reduction", die Schäden und Risiken der Sucht sollen möglichst verringert werden – wie beim Angebot von Derek Hudson zum Beispiel. Dabei geht es primär darum, Betroffene am Leben zu halten, nicht zwangsläufig, sie aus der Sucht zu holen. Zwei Ansätze, zwei Menschenbilder: Akzeptiert man den Menschen mit seinen Fehlern? Hilft man bedingungslos? Oder erst, wenn ­andere Menschen so leben, wie man selbst es für ­richtig hält?

Tasha With­row wurde 2013 noch mal rückfällig, als sie ­einen Typen datete, der drogenabhängig war. Er überredete sie, dass ein Schuss nicht schaden könne. Sie trafen sich mit ­Freunden auf einem Parkplatz in Huntington, eine ­Autostunde von Charles­ton entfernt, erinnert sie sich. Einer ihrer Freunde hatte den Van seiner Mutter dabei. In dem hingen sie rum, kochten den Stoff, zogen eine Nadel auf und setzten an. Tasha merkte sofort, dass etwas nicht stimmte. Sie kollabierte. Überdosis. Ihre Freunde brachten sie nicht ins Krankenhaus, sondern zu einem von ihnen nach Hause. Sie hatten Angst, ins Gefängnis zu müssen. Die Mutter des Freundes ruft Polizei und Kranken­- wagen. Sanitäter retten ihr das Leben. Im Krankenhaus wird sie in ein künstliches ­Koma versetzt. Als sie wieder zu sich kommt, ist Tasha klar: "Das kann ich nicht mehr."

Das Quick-Response-Team in Huntington, eine rasche Eingreiftruppe für Überdosen: Larrecsa Barker(li.), Ryan Bentley, Sue Howland und Sabarish Thanigaivasan (von links nach rechts)

Die kleine Stadt Huntington: einst als die "Hauptstadt der Drogen­toten" bekannt. 2016 gingen innerhalb von vier Stunden 26 Notrufe wegen einer Überdosis ein, bei 45 000 Einwohnern. Die Stadt ­wurde von der Epidemie überrannt, es gab keine Hilfsangebote. Mit ein Grund für den Anstieg der Überdosen-Rate: Heroin wird immer ­häufiger mit Fentanyl gestreckt, einem günstigeren und stärkeren Opioid, etwa hundertmal ­potenter als Morphin – und deswegen lebensgefährlich. Immer neue Mixturen tauchen auf den Straßen auf. Die neueste ist Carfentanil, eine Droge, die eigentlich dazu benutzt wird, Elefanten zu betäuben. Doch Huntington schrieb die Geschichte neu, gilt nun als Stadt der Lösungen.

Eine Person, die die Lösung lebt, ist Larrecsa Barker, 36. Die junge Frau mit den schwarzen Zöpfen schließt die Garage auf und beginnt, das Einsatzmobil auszuräumen. Barker ist auch nach einer langen Schicht noch energiegeladen und reißt Witze. Naloxonpackungen, saubere Spritzen, Verbandszeug, Wasser und andere Dinge landen wieder im Regal an der Wand. Barker ist Sanitäterin und Teil des Huntington-Quick-Response-Teams, einem Spezialeinsatzkommando. Sie werden ge­rufen, wenn jemand eine Überdosis hat, sind aber auch in der Stadt unterwegs, um Hilfe zu leisten. Manchmal verteilen sie Wasser, Essen oder Kleidung.

"Manchmal werden wir in ein verlassenes Haus gerufen, manchmal zum Haus eines Millionärs. Die Menschen, denen wir helfen, sind Väter, Brüder, Schwestern"

Larrecsa Barker

Manchmal suchen sie nach ­einer vermissten Person. Heute haben sie eine Frau zu einer Entzugsklinik in Kentucky gefahren, weil ihre Versicherung keine Behandlung in West Virginia bezahlen wollte. Neben Barker arbeiten noch ein Seelsorger, eine ehemalige Drogenabhängige, ein Polizist und ein Sozialarbeiter im Team. Es ist vielfältig wie ein Schweizer Taschenmesser: Je nachdem, welche Art von Hilfe benötigt wird – im Team gibt es sicher jemanden, der helfen kann.

"Manchmal werden wir in ein verlassenes Haus gerufen, manchmal aber auch zum Haus eines Millionärs", sagt Barker. Die Opioid­krise diskriminiert nicht. Sie kann jeden treffen. Sie diskriminiert erst, wenn es um Hilfsangebote geht. Barker und ihr Team wollen daran etwas ändern. Sie helfen bedingungslos, sehen nicht nur die Drogensucht. "Die Menschen, denen wir helfen, sind Väter, Brüder, Schwestern", sagt Barker.

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Lou, die als ehemalige Drogenabhängige im Team mitar­beitet, kennt die Probleme der Menschen aus erster Hand. Deswegen verstehe sie, dass man als Drogenabhängiger nicht einfach aufhören kann. Viele Abhängige therapieren mit Drogen ihre psychischen Probleme. "Depressionen und Abhängigkeit sind wie Erdnussbutter und Marmelade", sagt Lou. Sie gehen Hand in Hand. Es gehe um Mitgefühl. "Man muss Menschen wirklich mögen, um diesen Job machen zu können", sagt Barker. "Man muss wirklich wollen, dass es ihnen bessergeht." Barker wusste, dass sie diesen Job machen will, als ein Freund von ihr mit 26 Jahren an einer Überdosis starb. Viele würden ­anfangen, sich zu kümmern, wenn die Epidemie das ­eigene Umfeld trifft. "Ich wollte mich für meine Community einsetzen", erinnert sie sich.

Tasha sagt, dass die Drogen ihr Leben gerettet hätten. "Sie haben mich davor bewahrt, mich umzubringen, hätten mich aber auch fast umgebracht." Sie ist seit vielen ­Monaten clean, geht wieder auf Konzerte und hat ein Studium angefangen, das sie parallel zu ­ihrem Job im Gesundheitsamt absolviert. Sie lebt mit ihren sechs Ratten in einem kleinen Haus, das sie für Halloween oder Weihnachten schmückt. Sie hatte Glück, einen Vermieter zu finden, der sie trotz ihrer Geschichte als Mieterin akzeptiert hat.

Im ersten Stock ihres Hauses gibt es einen Raum, der bis unter die Decke vollgestellt ist mit Kisten. Eine ist voll mit ­Naloxon, eine andere mit Masken und anderen Hygiene­artikeln. Diese Dinge braucht Tasha für ­"Project ­Mayday", einen Verein, den sie gemeinsam mit Freunden gegründet hat. Sie ­klären auf über Safer-Use-Praktiken, besuchen Orte, wo Menschen Hilfe brauchen. Ihr letztes Projekt war ein Automat mit Naloxon, den sie in Charleston aufgestellt haben. "Die Nachbarn haben sich natürlich darüber beschwert", sagt Tasha, "totale Nimbys." Sie wehrten sich dagegen, anzuerkennen, dass das Problem schon lange da sei. Der Automat erinnere sie daran, dass Drogenabhängigkeit auch in ihrer Nachbarschaft existiert, vermutet Tasha. "Es ist internalisierter Hass." Die Nachbarn ­denken, die Drogenabhängigen sollten sich selbst aus dem Sumpf ziehen. Tasha möchte ihnen eine Hand reichen.

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