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Über den Arzt und Pfarrer Kurt Reuber hatte ich an dieser Stelle schon einmal geschrieben. Das war vor zwei Jahren, zum 80. Geburtstag seiner "Stalingradmadonna": Zu Weihnachten 1942 hatte Reuber in Stalingrad, wo er als Militärarzt stationiert war, ein Trostbild geschaffen, das weit gewirkt und viele Menschen berührt und begleitet hat, bis es langsam in Vergessenheit geriet.
Zwei Jahre zuvor – der Krieg währte schon ein Jahr, aber Reuber konnte die Korrekturbögen im Lazarett bearbeiten – erschien seine medizin-ethische Doktorarbeit. Da ich mehr über ihn als Arzt, Theologen und Mensch erfahren wollte, habe ich sie mir per Fernleihe in die Universitätsbibliothek meines Vertrauens schicken lassen: ein altes, stockfleckiges, verstaubtes Buch. Wer mag es als letzter vor mir ausgeliehen haben?
Das Thema von Reubers Doktorarbeit wirkte auf mich zunächst trocken und bloß historisch. Der Titel lautet "Die Ethik des heilenden Standes in Ordnungen des hessischen Medizinalwesens von 1564 bis 1830". Reuber stellt hessische Medizinalordnungen, also ärztliche Standesordnungen, der Neuzeit vor und wertet aus, wie man sich damals eine gute ärztliche Praxis vorgestellt hat.
Aber er will nicht nur verstehen, wie es damals war, sondern für sich klären, worum es in der ärztlichen Kunst immer gehen sollte, ganz besonders in seiner eigenen Gegenwart: "So ist diese Arbeit der Überzeugung, daß alle geschichtliche Besinnung unmittelbar immer der Gegenwart mit ihren Aufgaben und Nöten dient und damit höchst aktuell ist. Echte geschichtliche Besinnung vermittelt uns die Leistungen der Vergangenheit. Sie läßt uns vor der Geschichte ehrfürchtig werden und läutert in der Ehrfrucht unser Urteil über Vergangenheit und Gegenwart. Sie macht uns gerecht und dankbar im Blick auf unser Handeln."
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"Ehrfurcht" war für Reuber auch das zentrale Prinzip der Medizin, nämlich die "Ehrfurcht vor dem Leben", wie er sie von seinem Lehrer und Vorbild Albert Schweitzer gelernt hatte. Diese Ehrfurcht fand er in den alten Medizinalordnungen wieder. Diese sind zwar – wie sollte es anders sein – von einem ständischen und patriarchalen Gesellschaftssystem geprägt, gehen darin aber auf, sondern zeigen, welche Menschenfreundlichkeit die Reformation in enger Verbindung mit dem Humanismus hervorbringen konnte.
Für Reuber gehört es zu "den großen ärztlichen Aufgaben, die unsrer Zeit zu lösen aufgetragen sind, das Arzttum innerlich neu zu begründen." Deshalb erinnert er daran, dass die Medizin früher als eine Schutzmacht aller Menschen verstanden wurde: "Die Kranken, aber auch darüber hinaus die Gesunden im Volk, sind in leiblicher, ja auch in seelischer Hinsicht unter den Schutz des heilenden Standes in all seinem Wirken gestellt, das aus Ehrfurcht vor dem Leben dem alten große Gesetz folgt: Nützen und nicht schaden!"
Dies gilt ganz besonders gegenüber den Menschen, die man nicht einfach wieder gesund machen kann: "Das Ethos des heilenden Standes ist nicht nur da tätig, wo es sich um ‚Wiederbringung der Gesundheit‘, um hoffnungsvolle und erfolgversprechende Heilverfahren im Volk handelt, sondern auch auf die ‚Verlorenen‘, auf die ‚Minderwertigen’ gerichtet ist, auf die, die das Volk belasten; nämlich auf ‚arme, alte und besonders elende… gebrechliche Personen… (die) zu ihrer Nebenmenschen Gefahr und Last leben‘."
Dazu hat Reuber in einer Standesordnung von 1830 folgende Aussage gefunden, deren Sprachgebrauch heute zwar anstößig wirkt, die in der Sache aber höchst human ist: "Um die in seinem Bezirk befindlichen nothleidenden Krüppel, Blinden, Taubstummen, Epileptischen, Wahnsinnigen und alle zur öffentlichen Fürsorge geeigneten, an unheilbaren Krankheiten Leidenden hat der Arzt sich genau zu kümmern, ihren Zustand zu untersuchen, und hiernach, die etwa statthafte Aufnahme derselben in die zur Aufbewahrung, Versorgung und Heilung solcher Personen bestimmten Anstalten zu veranlassen."
Das war 1940 eine extrem unzeitgemäße Auffassung. Mit Kriegsbeginn hatte das NS-Regime angefangen, seinen lang gehegten Plan umzusetzen, Menschen mit Behinderungen zu ermorden. Ein Jahr später, als Reuber diese Sätze schrieb, lief die Terrormaschine schon auf Hochtouren. Da muss es ihn Mut gekostet haben, in einem öffentlichen Text dafür einzutreten, niemanden als "Ballastexistenz" zu betrachten und "auszumerzen" – wie die Mörder und ihre Vordenker zu sagen pflegten –, sondern gerade auch psychisch und körperlich Behinderte als Mitmenschen zu achten und unter den Schutz der Medizin zu stellen. Natürlich, seine Doktorarbeit hatte eine sehr geringe Reichweite und war kein lauter Protest wie die Predigten, die der katholische Bischof von Münster, Clemens August Graf von Galen, ein Jahr später halten sollte. Aber wie viele seiner Kommilitonen oder Professoren hätten sich Ähnliches getraut? Man darf nicht vergessen, dass die deutsche Ärzteschaft und medizinische Wissenschaft besonders gehorsam und begeistert zum NS-Regime stand. Aber Reuber ist seiner christlichen Überzeugung und seinem äztlichen Gewissen treu geblieben.
Heute hat die Arbeit für und mit Menschen mit Behinderungen eine hohe Qualität erreicht. Ob das so bleiben wird? Wir müssen wachsam sein. Ich nenne nur die Stichworte "Pflegenotstand", "Rezession" und "AfD". Umso wichtiger ist es, sich gerade jetzt an Kurt Reuber zu erinnern – nicht nur als Schöpfer der Stalingradmadonna, sondern auch als christlicher Medizinethiker.