Wir spüren den Schmerz, wenn ein anderer gekniffen wird. Die Tränen der anderen und auch ihre Lachanfälle stecken uns an. Wir empfinden Freude beim Schenken. Wir sind empathische Wesen, das ist unsere Natur. Neurologen können diese Empathie sogar im Gehirn nachweisen. Religiös gesagt sind wir dazu bestimmt, mitfühlend zu sein.
Doch in der Menge und unter dem Einfluss von Autoritäten und verqueren Moralvorstellungen lässt die Empathie schnell nach. Der Youtuber Moe Bradberry filmte Anfang 2015 einen Jungen, der bei minus 15 Grad Celsius im zerissenen T-Shirt bettelnd auf einem belebten New Yorker Bürgersteig stand und fror. Der Junge wickelte sich in einen Plastiksack. Unzählige Passanten gingen vorüber. Laut Bradberry vergingen zwei Stunden, bis sich ein Obdachloser erbarmte, dem Jungen seine Jacke abtrat und ihn wärmte.
Moral und Instinkt
Der Psychologe Stanley Milgram brachte Versuchspersonen dazu, einen anderen Menschen zu quälen. Den Versuchspersonen wurde gesagt, sie befänden sich in einem Erziehungsexperiment, bei dem sie einen Schüler mit immer höheren Stromschlägen von Fehlern abbringen sollten. Der Schüler reagierte mit Schmerzensschreien. In Wirklichkeit floss kein Strom, der Schmerz war gespielt. Milgram wollte wissen, wie autoritätshörig die Probanden sind. 26 von 40 verabreichten die höchste Strommenge, nur 14 brachen den Versuch ab. Das Experiment von 1961 wurde in vielen Varianten wiederholt. Je anonymer die Anordnung, desto mehr Probanden waren bereit, bis zum Äußersten zu foltern.
Am 16. Dezember 2012 brachte eine Notärztin eine vergewaltigte junge Frau nacheinander in zwei Krankenhäuser der Kölner Stiftung der Cellitinnen zur heiligen Maria zur gynäkologischen Untersuchung. Beide Male wurde die Patientin abgewiesen. Grund: Die Untersuchung hätte eine Abtreibung zur Folge haben können. Hier vernebelten strenge Moralvorstellungen den natürlichen Helferinstinkt.
In Lebensgemeinschaft hineingeboren
„Unter den Naturgesetzen, die für den Menschen charakteristisch sind, scheint es diese Hauptwahrheiten zu geben“, schrieb der Reformator Philipp Melanchthon 1521 in seiner Erstausgabe der Grundbegriffe des Glaubens (Loci Communes): „Man soll Gott ehren. Weil wir in eine Lebensgemeinschaft hineingeboren werden, soll man niemandem Schaden zufügen. Die menschliche Gesellschaft macht es erforderlich, dass wir alle Güter gemeinsam gebrauchen.“
Gott die Ehre zu geben hält heute nicht jeder für naturgegeben. Eher die Erkenntnis, dass es Größeres gibt als mich und meine kleine Welt, etwa die Not eines anderen Menschen. Wie konnten ausgerechnet Angestellte der Cellitinnen zur heiligen Maria das vergessen? Warum missachteten so viele Probanden in Milgrams Versuchen ihre Hemmung, andere zu verletzen? Warum gab kein Passant dem frierenden Jungen in New York seinen Mantel?
Auch der Feind ist Mensch
Krumme Affekte trüben den Verstand, schrieb Melanchthon. Weshalb es als Korrektiv staatlicher Gesetze bedürfe – darüber hinaus aber auch göttlicher Gebote, einer Ansage von außen. „Du sollst Gott lieben von ganzem Herzen und mit ganzer Seele“, zu verstehen als Gegenentwurf zum oftmals dominierenden Egoismus. Und: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“, ein Aufruf, selbst in der anonymen Masse empathisch zu handeln. Und die Liebe höher zu achten als jede Autorität und Morallehre.
Christliche Ethik geht noch weiter. Auch der Feind ist ein Mensch, auch ihm gilt der natürliche Affekt der Empathie. Nichts sollte zur Rechtfertigung dienen, das naturgegebene Mitgefühl zu unterdrücken. Utopisch? Nein, denn dazu ist ja der Mensch eigentlich gemacht.
Dennoch darf sich kein noch so frommer Christ rühmen, er sei einen Deut besser als die anderen. Im Gegenteil, weil erfahrungsgemäß jeder an dem scheitert, was ihm eigentlich geboten ist, sollte jeder nachsichtig sein, vergeben und Vergebung annehmen. Auch für sich selbst – manchmal das Schwierigste überhaupt.