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In der U-Bahnhofstelle der Münchner Universität ist derzeit, so las ich in der "Süddeutschen Zeitung", eine kleine, feine Foto-Ausstellung zu sehen. Der Fotograf Florian Jaenicke hat Bilder von vier Menschen mit mehrfacher Behinderung aufgenommen. Unterstützt durch die Stiftung "Leben pur" präsentiert er sie jetzt an einem ungewohnten Ort. Es sind keine Behindertenbilder. Es sind Menschenbilder. Sie machen sichtbar, wer zu uns gehört, auch wenn wir ihn oder sie nicht oft sehen, weil sie sich nicht selbständig in der Öffentlichkeit bewegen können. Mitten im Getriebe und Geschiebe eines stark frequentierten U-Bahnhofs zeigen die Fotos, was ein Mensch ist und was Menschenwürde bedeutet.
Die Idee dieser Fotoausstellung ist nicht neu, zum Glück nicht. Immer wieder versuchen Fotografinnen und Fotografen, die Menschlichkeit von Menschen mit Behinderung sichtbar zu machen: mal künstlerischer wie Julia Krahn, mal dokumentarischer wie Jim Rakete. Vor kurzem bin ich auf einen der ersten Versuche, noch zu DDR-Zeiten, gestoßen. Der Fotograf Dietmar Riemann hatte (es war seine Diplomarbeit!) 1981 längere Zeit in den evangelischen Samariteranstalten Fürstenwalde verbracht und die dort lebenden Menschen mit seiner Kamera begleitet.
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In seinen Fotos wurde ihr Menschsein, nicht ihre Behinderung zum Bildthema – eine damals unerhörte Leistung. Etwas Vergleichbares hatte etwa zeitgleich Harald Hauswald mit seinen Fotos aus der Stephanus-Stiftung in Ostberlin geleistet. Als Wanderausstellung reisten Riemanns Fotos durch viele Kirchengemeinden und bereiteten eine neue Achtung behinderter Menschen in der DDR vor.
Für eine Buchveröffentlichung hat Franz Fühmann, der für mich bedeutendste Autor aus der Zeit der DDR, den Bildern von Riemann einen Aufsatz hinzugefügt. Fühmann war seit Ende der 1970er Jahre mehrfach und über längere Zeiträume in den Samariteranstalten in Fürstenwalde zu Gast gewesen. Die Begegnung mit den dort lebenden Menschen hatte ihn berührt und inspiriert. Ihre unmittelbare, emotional ehrliche Art muss für ihn einen wohltuenden Kontrast zu den Verlogenheiten des sozialistischen Regimes dargestellt haben.
Obwohl selbst nicht-religiös eingestellt, fühlte er sich an diesem christlichen Ort wohl. Hier begegnete er unverstellter Menschlichkeit. Sein Aufsatz ist eine hochreflektierte, wunderschöne Hymne auf die Würde von Menschen mit Behinderung, ein literarisch-humanitäres Meisterwerk, für das ich keine Vergleichswerke zu nennen wüsste. Leider ist das Buch "Was für eine Insel in was für einem Meer. Leben mit geistig Behinderten" (Rostock, 1985) seit langem nicht mehr im Handel erhältlich. Man müsste da mal was machen…
Das Foto von Riemann, das oben zu sehen ist, zeigt Monika. Es ist nicht in das Buch aufgenommen worden. Monika war damals eine Frau Mitte Dreißig, von den Knien bis zu den Füßen gelähmt. Sie bewegte sich auf Knieschützern schlurfend vorwärts, aber das war besser als ein Rollstuhl. Denn so konnte sie selbst hierin oder dorthin. "Sie schlurft so schnell daher wie jemand, der schlendert," schreibt Fühmann, "später werden wir miteinander tanzen." Es ist für Fühmann wie "eine Offenbarung", als er sie bei der Arbeit beobachtete.
In der Fertigung einer Ledertasche ging Monika ganz auf und vollbrachte etwas Schönes. Riemanns Bild von Monika zeigt für Fühmann das Allesentscheidende: "Die Entfaltung eines Jeden als die Bedingung der Entfaltung Aller. Diese Photographien machen es sichtbar. Ich habe eine aus dem Umkreis dieses Bandes gerahmt an die Wand des Raumes gehängt, in dem ich arbeite, esse und schlafe. Es ist ein Porträt Monikas. Ich lerne von ihr, auch auf Knien zu gehen."
Wer mehr wissen will, sollte unbedingt die Dokumentation "Fotoshooting DDR" ansehen, die man seit kurzem in der Arte-Mediathek finden kann. Sie stellt neben Dietmar Riemann noch Barbara Wolff, Christiane Eisler und Eberhard Klöppel vor. Diese vier stehen beispielhaft für großartige und tiefmenschliche Fotokunst, die in der DDR entstanden ist.