Katrin K. (Jahrgang 1976):
Mit 16 lebte ich schon allein in einer kleinen Wohnung. Eine Dame vom Jugendamt guckte nach mir. Weil ich immer zur Schule ging und bei mir alles sauber war, hatte sie wenig Arbeit mit mir. Wir verabredeten uns für schöne Sachen. Sie nahm mich mit zu dem Stück "Erlöser vom Kamener Kreuz" in ein kleines Lübecker Theater. Das Bühnenbild bestand aus einer Endlosschlange von Autos und Wohnwagen, es gab tiefgreifende Gespräche zwischen den Menschen, die im Stau standen. Das war eine neue Welt für mich. Seitdem liebe ich Theater, Kino, Konzerte, Kultur!
Von zu Hause kannte ich das nicht. Ich komme aus einem Elternhaus mit einem alkoholkranken Vater, der meinen Bruder mehrfach fast zu Tode prügelte. Meine Mutter litt unter einer schizophrenen Persönlichkeitsstörung. Sie konnte mir ganz sorgfältig eine Orange schälen und im nächsten Augenblick so eine scheuern, dass mir der Kopf dröhnte. Ich kam ins Heim. Nach der Schule machte ich eine Ausbildung zur Krankenschwester.
Als ich 30 Jahre alt war, merkte ich, dass ich schneller an meine Grenzen komme als gesunde Menschen. Während eines Nachtdienstes fiel ein Patient aus dem Bett, zwei weitere Patienten waren schwer krank, ich wusste nicht, wo ich zuerst sein sollte. Nach der Schicht legte ich mich aufs Sofa und stand sechs Wochen lang nicht mehr auf. Es war, wie wenn das Licht ausgegangen ist. Wer nie eine Depression hatte, kann sich das nicht vorstellen.
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Zwei Jahre lang war ich krankgeschrieben. Danach bekam ich Sozialhilfe. Ich erhielt oft böse Post von den Behörden. Als ob ich eine Schmarotzerin wäre. 2013 wurde meine Erkrankung endlich anerkannt, ich wurde vollverrentet.
Ich bekomme 946 Euro Rente im Monat, davon zahle ich 496 Euro Miete. Man kann so klarkommen, wenn man ein Sparschwein ist wie ich. Ich rauche nicht, trinke keinen Alkohol, ich habe kein Auto oder teure Hobbys. Aber es ist eine Katastrophe, wenn etwas kaputtgeht. Das 49-Euro-Ticket wird leider bald teurer. Dann kann ich nicht mehr an die Ostsee fahren, um zu wandern, was mir guttut.
Kultur ist nicht drin. Aber in der Stadtbibliothek entdeckte ich einen Flyer von der Kulturtafel Lübeck. Dort kann man, wenn man einmal seine Bedürftigkeit nachgewiesen hat, nicht verkaufte Tickets für Kulturveranstaltungen bekommen. Die Leute von der Kulturtafel rufen mich an und fragen, ob ich Interesse habe. Frau Goddemeyer und ihr Team machen das so toll! Ich muss nur an der Abendkasse meinen Namen nennen und bin dabei. Wenn man wie ich traumatisiert und depressiv ist, hat das etwas von: Du bist willkommen!
Ungefähr alle sechs Wochen genieße ich Kultur. In diesem Jahr war ich schon bei einem A-cappella-Konzert von "Naturally 7" hier in Lübeck im Kolosseum, einem wunderschönen Jugendstilsaal mit toller Akustik. Eine Karte hätte mich 30 Euro gekostet. Boah, dachte ich, das ist ein ganzer Aldi-Einkauf!
Wer möchte, bekommt zwei Karten. Endlich kann ich Menschen einladen und bin nicht die, die eingeladen werden muss! Ich nehme meistens eine Freundin mit oder meinen Lebenspartner. Wir kochen vorher was zusammen, ziehen uns hübsch an, aus Respekt vor den Schauspielern oder Sängerinnen.
Beim Konzert oder im Theater bin ich voll im Hier und Jetzt. Ich verfolge, was passiert. Und alle anderen auch. Es spielt keine Rolle, wer ich bin. An so einem Abend bin ich eine ganz normale, vollwertige Konzertbesucherin, das macht es so besonders. Die Kulturtafel spricht nicht nur eine Einladung ins Theater oder Konzert aus, sondern eine Einladung zurück ins gesellschaftliche Leben. Und noch Wochen später hat man ein Thema, über das man sich unterhalten kann.
Voriges Jahr habe ich meine damals zehnjährige Nichte mitgenommen zum "Schleswig-Holstein Musik Festival", Zoe Wees war da, eine Sängerin. Ich bin stolz, das war ihr erstes richtiges Kulturerlebnis! Ich freue mich schon auf den nächsten Anruf der Kulturtafel. Jetzt kommt wieder Futter für die Seele, sage ich dann immer zu meiner Freundin.
Protokoll: Nils Husmann