An Weihnachten fahre er längst nicht mehr ins Heim zu seiner 91-jährigen Mutter, sagt mir der nette Physiker, den ich zum Arbeitsessen in ein indisches Restaurant eingeladen habe. Zu groß die Gefahr, dort auf die Geschwister zu treffen. Halt, er nennt sie "Ex-Geschwister". Und zwischen Mango-Lassi und veganem Curry deutet dieser besonnen wirkende 50-Jährige seelenruhig auf den Himmel über Frankfurt am Main: "Am liebsten wäre mir, mein Bruder würde mit einem Flugzeug abstürzen."
Hilfe. Wie kann man ausgerechnet den Menschen am meisten hassen, mit dem man die entscheidenden Jahre seines Lebens verbracht hat? Mit dem man an Fasching Ernie und Bert war, mit dem man heimlich unter der Bettdecke "Hanni und Nanni" las und die Eltern austrickste, wenn sie den Fernseher vermeintlich kindersicher ausgestöpselt hatten? Die Geschwister- beziehung ist für die meisten von uns die längste im Leben. Und doch sagte bei einer chrismon-Umfrage jeder fünfte Befragte, mit mindestens einem Geschwister laufe es nicht gut. Und jeder 20. Befragte hatte den Kontakt sogar komplett abgebrochen. So wie der Physiker.
Geschwisterbeziehungen kann man sich vorstellen wie eine U-Kurve: Als Kinder sind wir innig und eng, eine verschworene Gemeinschaft auch gegen zu strenge oder überforderte Eltern. Oft raufen wir uns, konkurrieren, neiden – auf jeden Fall: Die Beziehung ist meist intensiv. Als junge Erwachsene trennen sich unsere Wege oft, wir gründen eine eigene Familie oder starten beruflich durch. In aller Regel nähern sich Geschwister dann mit Ende 50, Anfang 60 wieder an. Eigene Kinder aus dem Haus, beruflich das meiste erreicht – und es stehen große Aufgaben an: die Eltern gut versorgen, vielleicht Pflege organisieren. Das Elternhaus ausräumen und vielleicht verkaufen. Den Abschied von den Eltern verkraften und das Erbe verteilen. In diesen Krisenzeiten, wenn man sich schon im emotionalen Ausnahmezustand befindet, verfalle man oft in alte Rollen, sagt der Züricher Geschwisterforscher Jürg Frick.
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