1. Wir können uns aus der alten Geschwisterrolle lösen. Niemand ist ein Leben lang Opfer seiner Familie. Die wichtigste Frage ist immer: Wie geht es weiter? Aber dafür muss ich erst mal verstehen, wie mich die Geschwister geprägt haben. Musste ich als Älteste zu früh Verantwortung übernehmen? Wurde ich als Sandwich-Kind wenig beachtet? Habe ich als Nesthäkchen meistens gewartet, dass die Großen alles für mich regeln? Gut zu wissen. Noch besser, sich von dort weiterzuentwickeln.
2. Erklären, nicht entschuldigen. Es hilft, sich den Zeitgeist anzuschauen, der in den Jahren unserer Kindheit geherrscht hat. Haben unsere Eltern den Bruder aufs Gymnasium geschickt, aber mich nur an die Realschule? Herrschte ein harter Vergleichswettbewerb zu Hause - konnte die Schwester Gedichte bis Strophe sieben? Wurde ich für die Bundesjugendspiele gedrillt, um besser zu werden als die Schwester? Typisch 1960er und 70er Jahre. Das muss niemand entschuldigen. Das war ungerecht. Pädagogisch blöd. Und das bleibt es auch. Aber man kann es erklären. Und versuchen zu verstehen.
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3. Nicht jede "Einladung" annehmen. Wer jedes Mal ausflippt, wenn die Schwester bei Familientreffen ihre Piepsstimme anstellt, reagiert wie ein Pawlow'scher Hund. "Das triggert mich" ist heute ein geläufiger Ausdruck, der aus der Therapieszene ins normale Leben eingewandert ist. Aber wir sind keine Pawlow'schen Hunde. Es kann helfen, sich zu sagen: Okay, diese Stimmlage lädt mich jetzt wieder ein auszuflippen. Aber auf diese Einladung habe ich gar keine Lust heute. Ich lehne sie dankend ab. Ein berühmtes Zitat, das häufig dem berühmten Neurologen und Psychiater Viktor Frankl zugeschrieben wird, aber von Stephen Covey stammt, bringt es auf den Punkt: "Zwischen Reiz und Reaktion liegt ein Raum. In diesem Raum liegt unsere Macht zur Wahl unserer Reaktion. In unserer Reaktion liegen unsere Entwicklung und unsere Freiheit."
4. Die Geschwister regelmäßig treffen. Wer in Ruhe auf das Familienleben schaut, wird Seiten der gemeinsamen Eltern kennenlernen, die man selbst irgendwann verdrängt hat. Oder gar nicht wahrnehmen konnte. Unser Gedächtnis ist adaptiv, es spült manchmal nur diejenigen Teile unserer Erinnerungen nach vorne, die gerade vermeintlich relevant sind. Und: Unser Gehirn schmückt unsere Erinnerungen aus, verändert sie sogar so weit, dass sie zu unserem aktuellen Leben und unserer Selbstsicht passen. Je mehr Augen auf die eigene Kindheit gerichtet sind, desto bunter und klarer wird sie. Und desto eher kann man sich damit versöhnen.
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5. Großzügigkeit und Milde helfen ungemein. Auch wenn fast alle Eltern behaupten, sie seien "total gerecht" mit ihren Kindern – und das hätten sie auch von ihren Eltern so erfahren –, es stimmt nicht. Gerechtigkeit gibt es nicht unter Geschwistern. Darin sind sich die meisten Forscher einig. Weil jedes Kind etwas anderes braucht. Weil sich unsere Leben immer anders entwickeln, als eine sture Buchhalterei es vorsieht oder abbilden kann. Am besten, man findet sich damit ab: Es gibt keine universelle Gerechtigkeit.
6. Jede und jeder in unserer Familie hatte dieselben Eltern - und doch andere. Wir sind früher oder später geboren als die Geschwister, die Eltern waren entweder noch unerfahren oder hatten schon Erfahrungen gesammelt, die Zeitläufte ändern sich. Wir verbinden mit den gemeinsamen Eltern unterschiedliches Glück, unterschiedliche Trauer, unterschiedliche Schuld. Drum müssen wir heute nicht mehr darum ringen, wer sie besser deutet oder wer mehr mit ihnen durchlebt hat. Wir können uns aussöhnen mit unserem ganz eigenen Teil der Familiengeschichte.