Sexualisierte Kriegsgewalt
Flashbacks, wenn sie Männerschweiß riechen
Über 25 Jahren nach Ende des Kosovokrieges prägen die traumatischen Erfahrungen sexualisierter Kriegsgewalt noch immer das Leben der Betroffenen. Monika Hauser hat mit den Frauenrechtsorganisationen Medica Mondiale und Medica Gjakova die tiefgreifenden Langzeitfolgen untersucht
Klient:innen von Medica Gjakova in einem Garten mit Bäumen und Hühnern. Medica Gjakova ist die kosovarische Partnerorganisation der Frauenrechtsorganisation Medica Mondiale
Klientinnen von Medica Gjakova, der kosovarischen Partnerorganisation von Medica Mondiale
Majlinda Hoxha
Lena Uphoff
25.09.2024
6Min

chrismon: Zu welchen Ergebnissen ist die Studie über sexualisierte Kriegsgewalt im Kosovo gekommen?

Monika Hauser: Sie zeigen sehr eindrücklich, dass es auch über 25 Jahre nach Ende des Kosovokrieges noch immer massive psychische und physische gesundheitliche Langzeitfolgen für die Überlebenden sexualisierter Kriegsgewalt gibt. Dazu kommen die sozialen Folgen, die Ausgrenzung und Stigmatisierung der Überlebenden, die zu immer wieder neuen Verletzungen führen und sie daran hindern, mit dem Erlebten abschließen zu können.

Bettina Flitner

Monika Hauser

Monika Hauser ist Gynäkologin und gründete 1993 Medica Mondiale. Die Frauenrechtsorganisation arbeitet mit lokalen Partnerorganisationen in 14 Kriegs- und Krisengebieten zusammen, um von Gewalt betroffene Frauen medizinisch, psychologisch und juristisch zu unterstützen.

Welche psychischen Folgen hat sexualisierte Kriegsgewalt?

Fast zwei Drittel der 200 Überlebenden, die an der Studie teilgenommen haben, leiden unter einer posttraumatischen Belastungsstörung. Sie bekommen immer wieder Flashbacks, das heißt, wenn sie zum Beispiel Männerschweiß riechen, werden sie überfallartig von ihren traumatischen Erinnerungen eingeholt und haben Probleme, ihren Alltag zu bewältigen. 96 Prozent der Teilnehmerinnen leiden unter Depressionen und geben an, dass sie noch immer ein hohes Maß an Ängsten haben. 30 Prozent hatten in der letzten Woche Selbstmordgedanken, über 70 Prozent haben das Gefühl, dass ihr Leben nicht mehr lebenswert ist. Das alles zeigt, wie massiv die damaligen Erfahrungen noch immer ihr Leben, ihren Alltag und ihre gesundheitliche Situation beeinträchtigen.

Über sexualisierte Kriegsgewalt sprechen Düzen Tekkal und Dagmar Pruin in einem Doppelinterview

Welche körperlichen Auswirkungen hat die Gewalterfahrung auf die Überlebenden?

Fast die Hälfte aller Studienteilnehmerinnen empfindet ihren Gesundheitszustand als schlecht. Der Großteil berichtet von Kopf-, Nacken- und ständigen Rückenschmerzen. Über 63 Prozent leiden an chronischem Bluthochdruck. Nahezu alle berichten, dass sie regelmäßig ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen müssen.

Sexualisierte Kriegsgewalt gilt noch immer als Tabuthema. Wie erleben die betroffenen Frauen den gesellschaftlichen Umgang?

Der Kosovo befindet sich nach wie vor in einer politischen und wirtschaftlichen Nachkriegssituation. Die Frauen werden stigmatisiert und ausgegrenzt für das, was sie erlebt haben. Die Gesellschaft erinnert sie ständig daran und straft sie mit Verachtung ab. Das ist ein sehr großes Problem in patriarchalen Gesellschaften. Dadurch durchleben die Frauen einen anhaltenden traumatischen Prozess. Das Trauma kann nicht vollends verarbeitet werden. Das ist im Kosovo nicht einmalig. Wir müssen uns nichts vormachen, auch im Nachkriegsdeutschland gab es viele Frauen, die Erfahrungen sexualisierter Gewalt nie verarbeiten konnten. Das trifft überall zu, wo wir patriarchale Gesellschaften haben, die es nicht erlauben, dass die Frauen über ihre Erfahrungen sprechen können, so wie auch über andere Verbrechen gesprochen wird. Diese Stigmatisierung und Ausgrenzung traumatisiert sie immer wieder von Neuem.

Werden die Überlebenden auch von ihrer Familie und ihrem nahen Umfeld ausgegrenzt?

Die deutliche Mehrheit der Befragten hat erzählt, dass nahestehende Personen über die Vergewaltigungserfahrung Bescheid wissen und dass sie sich unterstützt fühlen. Nur wenige reden davon, dass sie dort sehr negative Erfahrungen machen. Ein gegensätzliches Bild haben wir, wenn es um die Frage nach gesellschaftlicher Wahrnehmung und Akzeptanz geht. Hier berichten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer von diskriminierenden Praktiken und abwertenden Haltungen gegenüber den Überlebenden. Das ist das Tragische, denn auch der allgemeine gesellschaftliche Umgang mit dem Thema hat enorme Auswirkungen auf die Frage, wie das Trauma verarbeitet werden kann.

Welche weiteren Stabilisierungsfaktoren gibt es?

Direkt nach der eigenen Familie nannten die Befragten die fachliche und empathische Unterstützung durch unsere kosovarische Partnerorganisation Medica Gjakova als das, was ihnen am meisten geholfen hat, ihr Leben weiterzuführen. Die Überlebenden haben dort eine Art neue Familie gefunden. In gruppentherapeutischen Sitzungen können sie dort zum Beispiel miteinander sprechen, sich gegenseitig stärken und auch miteinander lachen. Es ist eine große Kraft, zu wissen: Ich bin nicht alleine, die anderen haben Ähnliches erlebt. Es ist unglaublich, was für ein Leid und was für eine Kraft in der gleichen Zeit da sind. Medica Mondiale hat über die Jahre einen stress- und traumasensiblen Ansatz entwickelt, der die Stabilisierung und Stärkung der Überlebenden zum Ziel hat. Sie sollen sich ernst genommen fühlen, das Unrecht wird wahrgenommen und anerkannt. Das Personal weiß, wie es sich verhalten muss, damit die Überlebenden stabilisiert und gestärkt ins Leben zurückkehren können.

Hat den Frauen auch eine Verurteilung der Täter oder eine finanzielle Entschädigung geholfen?

Eine Verurteilung der Täter gab es kaum. In Den Haag hat das UN-Kriegsverbrechertribunal wenige serbische Täter verurteilt, aber nicht für den Straftatbestand sexualisierte Gewalt. Mit dieser Art der Gerechtigkeit können kosovarische Frauen wahrscheinlich nicht mehr rechnen. Aber die Reparationszahlungen waren sehr wesentlich. Kosovarische Frauenrechtsorganisationen haben ein Gesetz erkämpft, wonach die Frauen seit 2018 230 Euro monatlich beantragen können. Das ist eine große Unterstützung und politische Anerkennung. Es kann nicht mehr gesagt werden, die Verbrechen seien nicht passiert. Trotzdem reicht das Geld, wenn die Frauen nur das bekommen, natürlich nicht aus. Davon kann auch im Kosovo niemand leben.

Ihre Studienergebnisse beziehen sich nur auf den Kosovo. Sind sie auch für andere Kriegsgebiete repräsentativ?

Nein, die Studie ist im wissenschaftlichen Sinn nicht repräsentativ. Aber die Ergebnisse sind exemplarisch und dadurch auch überregional relevant. Denn aus unserer Erfahrung können wir sagen, dass wir ähnliche psychische, physische und soziale Folgen auch in unseren anderen Projektregionen in Westafrika, an den Großen Seen Afrikas, in Afghanistan und im Irak und in Südosteuropa sehen.

Lesen Sie hier ein Interview mit der Anwältin Christina Clemm, wie Gewalt gegen Frauen gestoppt werden kann

Noch gibt es sehr wenig empirisch fundiertes Wissen über sexualisierte Kriegsgewalt. Woran liegt das?

Das liegt zum einen daran, dass es kein Forschungsthema ist, mit dem sich viele beschäftigen. Man könnte sich fragen: Ist das auch eine patriarchale Folge? Zum anderen gibt es wenige unabhängige oder staatliche Stellen, die sich diesem Thema ausreichend annehmen. Besonders im Bereich der Langzeitfolgen gibt es bisher kaum Daten oder Wissen.

In Ihrer Studie sprechen Sie davon, dass im Umgang mit den Folgen sexualisierter Kriegsgewalt eine "gesamtgesellschaftliche Verantwortung" besteht. Was meinen Sie damit?

Wenn eine Frau vergewaltigt wird, egal wo auf der Welt, dann ist es nie ein individuelles Problem. Eine Vergewaltigung hat immer Auswirkung auf ihre gesamte Umgebung. Wenn wir uns vorstellen, dass im Kosovo sehr viele Frauen vergewaltigt wurden und dass es sich dabei um eine systematische Gewalt handelte, dann kann es kein individuelles Problem mehr sein. Durch die patriarchalen Dynamiken werden die Frauen sozial ausgegrenzt, isoliert und beschämt. Es wird nicht über das Thema sexualisierte Gewalt gesprochen, weil Männer ihr eigenes Verhalten reflektieren und Frauen ihre Erfahrungen teilen müssten. Das wird nicht gemacht, weil es zu schmerzhaft ist. Stattdessen lässt man die einzelne Frau alleine. Das ist fatal. Ohne Unterstützung kann die erlebte Gewalt jedoch nicht verarbeitet werden, die Folgen des Traumas dauern an und reichen tief in das Leben der Betroffenen. Und es kann auf die nächsten Generationen übertragen werden – auf Familien und auch auf das soziale Umfeld. Sexualisierte Kriegsgewalt reicht als transgenerationales Thema bis in unsere Gegenwart und beeinflusst unser gesellschaftliches Zusammenleben.

Welche Forderungen stellen Sie auf politischer Ebene?

Unsere kosovarischen Kolleginnen stellen ihre Forderungen an die kosovarischen Regierungen. Wir stellen sie übergeordnet an die deutsche Bundesregierung, weil es in der Außen- und Entwicklungspolitik immer wieder gute Möglichkeiten gibt, das Thema zu bearbeiten. Wir sind sehr froh darüber, dass sich die Bundesregierung einer feministischen Außenpolitik verschrieben hat. Dabei ist die Bekämpfung von sexualisierter Gewalt sowohl präventiv, damit sie gar nicht erst passiert, als auch zur Unterstützung danach ein wichtiges Element. Und es ist sehr wichtig, Frauenrechtsaktivistinnen vor Ort nicht im Stich zu lassen, sondern finanziell und politisch zu unterstützen. Es gibt viele Maßnahmen und Kampagnen zur Aufklärung. Diese könnten unterstützt werden. Die deutsche Bundesregierung hat viele Kriegs- und Krisensituationen nicht verhindern können. Aber dort ist Gewalt passiert, daher könnten sie sich im Nachhinein dazu verpflichten zu sagen: Wir packen dieses Thema an und wollen, dass eine stress- und traumasensible Unterstützung vor Ort finanziert wird.

Was können Einzelpersonen tun, um von Deutschland aus zu unterstützen?

Ganz einfach: Man kann Frauenrechtsorganisationen wie Medica Mondiale finanziell unterstützen, damit wir unsere Arbeit weitermachen können. Außerdem kann man sich zum Beispiel auf unserer Website oder auf unseren Social-Media-Kanälen informieren: Was bedeutet sexualisierte Kriegsgewalt? Welche Folgen hat sie für Überlebende, die nach Deutschland kommen? Es ist wichtig, sich thematisch fortzubilden, damit ich weiß, wie begegnet man jemandem, wie höre ich zu und wie kann ich verantwortlich mit diesem Thema umgehen.