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Dieses Bild ist eine Geduldsprobe. Schaffen Sie es, so lange drauf zu schauen, bis etwas hervortritt, in Schwingung gerät? – Nein, das ist kein Lang-Stereotest beim Augenarzt. Keines von diesen graukörnigen Bildern, bei denen eine Katze zum Vorschein kommt oder ein Auto. "Rot macht high", hat der Künstler Rupprecht Geiger mal gesagt. Und tatsächlich ist sein Werk "429/65" von 1965 mindestens ebenso sinnlich, wie der Titel sachlich ist.
Ein Rausch in Rot, die Farbe seines Lebens. Als einer der ersten modernen Maler widmete der Münchner Rupprecht Geiger sein Leben und Schaffen einer einzigen Farbe. Rot kann auch Blut sein, Krieg, Wut – aber für Geiger bündelte Rot vor allem Gutes: Wärme, Kraft, Liebe. Wer lange genug draufschaut auf seine flächigen Bilder – dieses hier ist keine Ausnahme, sondern die Regel –, wird regelrecht hypnotisiert, mit Energie aufgeladen.
Die Faszination für freie Farbflächen hat sich der Künstler vom Himmel abgeschaut. Der Blick nach oben war für ihn eine Art Rückzug aus dem Horror des Kriegsalltags. 1940 wurde Rupprecht Geiger mit 32 Jahren eingezogen und an die Ostfront geschickt. Man machte ihn zum Kriegsmaler. In Russland, in der Ukraine und in Griechenland malte er Landschaften, ausgebrannte Höfe, Soldaten, die auf Feldern im Abendlicht ausruhen.
Schon auf diesen frühen Bildern wird deutlich, wie die Farbnuancen des Lichts immer interessanter werden für Rupprecht Geiger, wie der Himmel den heimlichen Mittelpunkt seiner Werke ausmacht. Auch hier in "429/65" kann, wer will, einen Abendhimmel erkennen. Wenn sich das Sonnenlicht am Horizont bricht und als orange-roter Film auf die Augen drückt.
Lesen Sie hier die regelmäßige Kolumne "Kultur-Beutel" von Johann Hinrich Claussen
Das künstlerische Erweckungserlebnis des Rupprecht G., von dem er selbst gern erzählte, hat etwas von Liebe auf den ersten Blick: Nach dem Krieg, zurück in Deutschland, läuft in den grauen Trümmern des zerbombten Münchens ein Mädchen in knallrotem Pulli an ihm vorüber – was für ein Kontrast! Es ist um ihn geschehen. Rupprecht Geiger hat seine Farbe entdeckt und mit ihr eine Mission. In einem Carepaket findet er einen roten Lippenstift und beginnt damit zu malen.
Ein Gegenprojekt zum figürlich-heroischen Nazigeschmack
Im Sommer 1949 gründet der ausgebildete Maurer und studierte Architekt mit sechs Gleichgesinnten die Gruppe der Gegenstandslosen, die bald in ZEN 49 umbenannt wird (den religiös-meditativen Anklang zum Zenbuddhismus haben die Namensgeber mindestens billigend in Kauf genommen). Abstrakte Malerei – aus Liebe zur Farbe, aber auch als klares künstlerisches Gegenprojekt zum figürlich-heroischen Nazigeschmack. Und Rupprecht Geiger sprengt den Rahmen, verlässt die rechteckige Form. Mit einer Sprühpistole malt er rot – von orange bis pink – auf konkave Flächen, leuchtende Kreise, zeltartige Hauben, unter die man, wie unter eine Trockenhaube beim Friseur, schlüpfen kann, um förmlich einzutauchen ins rote Universum.
Dass die Farbe lebt, beim längeren Draufschauen zu fließen beginnt, Übergänge und Schattierungen offenbart, die der flüchtige Blick noch nicht erfasst, ist eine sehr sinnliche Erkenntnis beim Betrachten von Rupprecht Geigers Bildern. Auch hier löst sich der orange Balken in der oberen Bildhälfte nach einiger Zeit auf, taucht in das sattere Rot seiner Umgebung. Wem das mit der Zeit zu aufdringlich wird, darf getrost die Lider senken. Man müsse die Augen schließen, um eine Farbe richtig zu erkennen, hat Rupprecht Geiger gesagt. Das Rot lebt in Ihrem Kopf weiter. Probieren Sie es aus, der Mann wusste, wovon er sprach!