Wir nannten Alwine Oma. Sie war immer für uns da; egal, ob wir aus dem Kindergarten oder später aus der Schule kamen.
Alwine S. wurde am 18. Juni 1892 in einem kleinen Dorf in Brandenburg geboren. Sie heiratete 1920 einen Bauern aus dem Nachbarort.
Nach dem Ersten Weltkrieg gab es einen Frauenüberschuss, und der Vater musste immerhin drei Töchter verheiraten. Alwines Schwester Pauline heiratete während des Krieges ihren Cousin; die anderen drei Töchter waren noch "unter die Haube zu bringen". Auf einem Foto von Alwine sieht man eine selbstbewusste junge Frau, modern gekleidet und mit kurzem Haar. Interessant ist, dass sie auf diesem Foto nicht ihre Wendentracht trug; schließlich gab es extra eine Tracht für Sonn- und Feiertage. Auf dem Foto spürt man ihre Ausstrahlung. Eine selbstbewusste Frau, die ihren Weg gehen wird. Genauso habe ich sie empfunden. Ich habe sie nur als Witwe erlebt. Sie war zwar in unsere Familie integriert, aber letztlich doch auf sich gestellt, zumal das Verhältnis zwischen ihr und meiner Mutter nicht innig war.
Sie besuchte mit uns jedes Jahr die Schlossparkfeste
Ihr Ehemann verunglückte1948 beim Bau einer neuen Scheune auf dem Hof tödlich; erzählt wurde, er sei alkoholisiert gewesen. Über ihren Ehemann hat sie nie, jedenfalls nicht in meiner Gegenwart, gesprochen.
Aus der Ehe sind keine Kinder hervorgegangen. Auch deshalb hat Oma ihren Neffen (meinen Vater) nach dem Tod ihres Mannes adoptiert. Den Hof hat sie ihm erst 1955 im Zusammenhang mit der Ehe meiner Eltern überschrieben.
Alwine war die Oma, die mit uns im Haus zusammenlebte und immer präsent war. Ich erinnere, dass sie dafür sorgte, dass wir am Morgen in den Kindergarten gingen, wenn Mutti und Vati längst auf dem Feld arbeiteten.
Marlis Hübner
Aus meiner Kinderzeit gibt es nur wenige Fotos. Eines der ersten zeigt mich mit Oma in einem Kahn im Spreewald. Ich muss etwa zwei Jahre alt gewesen sein. Es war üblich, dass die Gemeinde, später die LPG (Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft), jährlich einen Ausflug organisierte. Meine Eltern hatten offenbar keine Zeit, und so ist Oma mitgefahren. Ich schaue auf diesem Foto aufmerksam nach vorn und Oma in ihre Wendentracht gekleidet guckt stolz in die Kamera.
Mit uns Kindern besuchte sie auch jedes Jahr die Schlossparkfeste, jedenfalls solange sie noch gut zu Fuß war. Oma bezahlte die Fahrten mit den Karussells, kaufte für uns Wundertüten, die anfangs eine Mark kosteten. Darin fand man keine Wunder, aber stets eine Überraschung, die nach dem Auspacken selten zum Spielen benutzt wurde. Trotzdem liebten wir Wundertüten, weil wir auf ein Wunder hofften.
Solange es ihr gesundheitlich gut ging, hat Oma Alwine täglich für die große Familie gekocht. In der Küche befand sich eine Kochmaschine, die mit Holz geheizt wurde. Dort konnte warmes Wasser aus einem Behälter geschöpft werden und Essen länger zum Aufwärmen stehen bleiben. Wenn wir aus der Schule kamen, wartete sie mit dem Essen. Sicher war es besser als das Schulessen, aber Freude machte sie mir damit nicht. Es gab häufig Ärger, wenn wir nicht alles aufessen wollten. Dann wurde das Essen still und heimlich, etwa bei den Katzen, entsorgt. Manchmal waren allerdings auch sie schon satt, und so sahen die Erwachsenen, dass wir die Katzen nochmals gefüttert hatten.
Oma fuhr regelmäßig, meist einmal im Monat mit dem Schulbus ins Städtchen. Der Schulbus war und ist die einzige Verbindung mit öffentlichen Verkehrsmitteln vom Dorf ins Städtchen. Sie ging zur Bank, um ihre Rente abzuholen, zu Frau Dr. Schikora, einer Internistin, und einkaufen. Sie kannte viele Geschäftsleute noch aus den alten Zeiten. Auf jeden Fall wurde das Café Rose besucht. Als ich älter wurde, waren mir diese Fahrten mit Oma im Schulbus peinlich. Sie trug die Wendentracht mit Hille (Kopfbedeckung) und Lederpantinen, sie wirkte wie aus der Zeit gefallen.
Heute kann ich das nicht nachvollziehen und es tut mir leid, aber damals war es mir peinlich. Meine Schwester hat sich an diesen Tagen um Oma gekümmert. Beide gingen zusammen einkaufen. Oma hatte nur eine kleine Rente, es waren noch nicht einmal 200 Mark/DDR. Aber eine Kleinigkeit für uns kaufte sie gern. Es gab einen wunderschönen Spielzeugladen, gleich am Busplatz. Diesen führten zwei Schwestern; er wurde Knolls Spielzeugladen genannt. Dort gab es unter anderem kleine Glasfiguren, die ich mir stundenlang ansehen konnte. Manchmal bekamen wir eine Figur, ein Reh oder einen Elefanten, die dann in die Glasvitrine ins Wohnzimmer gestellt wurden. Meist schaute ich mich in dem Geschäft nur um; lange durfte man sich eh nicht aufhalten. Die alten Damen waren nicht unfreundlich, aber es schickte sich nicht, nur zu schauen.
Etwas Besonderes war es, wenn ich bei Oma im Gästebett schlafen durfte. Ich erinnere an wenige Male. Nachts wurde ich oft wach und fürchtete mich, weil über dem Bett ein düsteres Bild hing. Später habe ich das Original im Museum gesehen: Böcklins Toteninsel. Der in weiß gekleidete "Sensenmann" bringt mit dem Boot Menschen auf die Toteninsel. Da kann sich ein Kind schon fürchten. Aber warum kauft man ein solches Bild und hängt es sich ins Zimmer? Sie hatte noch zwei andere Bilder; es waren große eingerahmte Fotos, die über dem Sofa hingen. Das eine zeigte ihren Mann in einer Ulanenuniform; wobei mir vor allem der Kopfschmuck der Ulanen imponierte. Wer auf dem anderen Bild abgebildet war, erinnere ich nicht.
Oma Alwine litt am Grünen Star und musste operiert werden. Die Operation erfolgte im Krankenhaus in der Kreisstadt. Danach musste sie länger einen Verband tragen, der das eine Auge verdeckte, und sie sah schlecht. Als der Verband ab war, trug sie eine sehr dicke Brille; das Augenlicht war stark beeinträchtigt. Dies bedeutete aber nicht, dass wir Kinder stets Rücksicht nahmen. Ich erinnere mich, dass wir ihr einen Streich spielten, weil wir bemerkten, dass sie nicht weit sehen konnte. Meine Schwester und ich haben sie sogar erschreckt, indem wir uns hinter dem Backofen versteckten, der sich zwischen dem Eingangsbereich und dem Kuhstall befand. Mit lautem Krach sprangen wir aus der Ecke, als sie die Treppe davor passieren wollte. Oma ließ sich auf die Stufe fallen und atmete schwer. Wir dachten, sie hätte sich ernsthaft verletzt, halfen ihr wieder auf. Danach ließen wir solche bösen Streiche. Kinder können echt grausam sein.
Der Weinballon im Schlafzimmer
Manche Begebenheiten waren skurril: Oma hatte in ihrem kleinen Schlafzimmer in der Ecke einen Weinballon stehen. Dieser musste eines Tages geleert, der Wein also in Flaschen gefüllt werden. Sie hantierte an diesem Nachmittag damit, es schien nicht so zu funktionieren, wie sie es sich vorgestellt hatte. Deshalb fragte sie, ob ich ihr nicht helfen könne. Sie erklärte mir, dass ich den Weinschlauch in den Mund nehmen und den Wein nur ansaugen solle. Sobald ich den Wein spürte, reichte sie die Flasche und wir füllten den Wein ab. Das funktionierte gut. Plötzlich fiel mir ein, dass an diesem Nachmittag noch Konfirmandenunterricht war. Dazu mussten wir fast jedes Mal einen Liedtext auswendig lernen. So war es auch an dem Tag. Die Zeit war knapp und ich versuchte mir den Text schnell einzuprägen. Das gelang ganz gut, zumal sich alles reimte.
Erst kam ich etwas zu spät zum Unterricht, dann sollte ich den Text vortragen. Ich sagte diesen auf und der Pfarrer starrte mich an. "So nicht, das ist falsch." Ich verstand nicht, was er von mir wollte. "Und dann noch alkoholisiert erscheinen!" "Ich bin nicht alkoholisiert." "Das riecht doch bis zu mir! Raus. Ich werde mit deinen Eltern reden."
Ich verließ den Raum. Oma freute sich, dass ich wieder da war und ihr weiterhelfen konnte. Ich berichtete von dem Ärger mit dem Pfarrer.
"Ach, der regt sich wieder ab. Du hast doch nichts getrunken. Wer weiß, was er hatte."
Am frühen Abend, die Eltern waren noch im Kuhstall, kam tatsächlich der Pfarrer. Ich hörte, wie der Hund bellte, und er auf den Hof kam. Ich ging ihm entgegen:
"Die Eltern sind im Stall."
Er ging in den Kuhstall und muss sich beschwert haben. Meine Eltern ließen sich aber bei der Arbeit nicht stören, so dass es so schlimm nicht gewesen sein konnte. Beim Abendbrot gab es dann doch Ärger, aber nicht wegen des Pfarrers, sondern wegen Omas "Moscherei" im Zimmer mit dem Wein.
"Warum unterstützt du sie dabei; sie soll nicht immer in der Kammer rummoschen. Den Wein kann sowieso kein Mensch trinken!"
Schließlich kam die Sprache auf den Liedtext. Ich hätte den Pfarrer veralbern wollen. Ich wusste nicht, wie. Den Text hätte ich Zeile für Zeile auswendig gelernt, so sei das Lied aber weder geschrieben noch zu singen, sondern durch mich verunstaltet worden. Erst da wurde mir klar, was ich in der Eile falsch gemacht hatte. Offenbar muss ich auf die Eltern ehrlich gewirkt haben, sodass sie mir glaubten als ich ihnen erklärte, in welcher Reihenfolge ich den Text gelernt hatte.
Tante Anna reiste von Schwester zu Schwester
Oft kamen Tante Anna oder Tante Berta für längere Zeit auf Besuch. Dann zogen sie sich zu Gesprächen auf Omas Zimmer zurück. Als Kind konnte ich mich nur wundern, was sich die alten Damen zu erzählen hatten. Sowohl Tante Anna, Omas älteste Schwester, als auch Tante Berta, ihre Cousine und Schwägerin, waren bei mir sehr beliebt. Tante Anna hatte eine freundliche und liebevolle Art, anders kann ich das nicht beschreiben. Sie half Oma vor allem im Garten und beim Kochen. Sie herzte uns und freute sich über uns Kinder. Nie waren wir ihr zu laut oder störten. Deshalb verwunderte es mich sehr, wenn ich Gespräche zwischen Mutti und Oma mitbekam, dass Tante Anna endlich wieder abreisen müsse.
Denn Tante Anna hatte nach der Enteignung ihrer Familie kein Zuhause mehr und lebte zeitweise an verschiedenen Orten; reiste von Schwester zu Schwester, um keiner lange zur Last zu fallen. Gemeldet war sie bei Tante Pauline, also in ihrem ehemaligen Elternhaus. Manchmal erzählte sie von ihrem Dorf, wo sie verheiratet war und sie einen großen Hof bewirtschaftet hatten. Sie war ebenso wie Tante Berta und die Familie meines Vaters enteignet worden. Die Ehemänner waren in den Nachkriegswirren zu Tode gekommen.
Tante Berta kam im Winter regelmäßig. Oftmals hatte ich in dieser Jahreszeit eine starke Erkältung oder sogar Fieber. Sie war dann diejenige, die sich an mein Bett setzte und Geschichten erzählte. Das war wunderbar. Sie konnte Märchen oder Geschichten aus ihrem Leben erzählen; ich hörte ihr wahnsinnig gern zu. Sie reiste mit Bus und Bahn an, was sehr umständlich war und ihr mit den Jahren nicht leichtfiel.
Oma Alwine hatte nach dem Krieg für längere Zeit verschiedene Familienangehörige aufgenommen, die enteignet worden waren. Dazu kamen Flüchtlinge aus dem heutigen Polen. Eine weitere Familie, die jedenfalls kurzzeitig in dem Haus untergekommen war, lernte ich Anfang der 70er Jahre kennen. Vor unserem Haus standen große Linden, die im Sommer Blüten und Herbst reichlich Laub abwarfen. Jeden Samstag wurde gekehrt. Ich war beim Laubkehren, als ein Mercedes mit Westberliner Kennzeichen vorfuhr. Aus dem Auto stiegen ein junger Mann, eine ältere Frau und ein weiterer Mann. Sie fragten, ob Alwine S. noch lebe und in diesem Haus wohne. Ich bejahte und holte Oma an die Tür. Die Frau sagte zu ihr, dass der junge Mann in Omas Wohnzimmer geboren sei und man ihm gern seinen Geburtsort zeigen wolle. Oma konnte sich daran erinnern; wir alle waren sehr gerührt. Zum Abschluss entstand ein Foto. Das ist einzige Altersfoto, das ich von ihr besitze.
Als Oma gebrechlich wurde, zog sie sich immer mehr in ihre beiden Zimmer zurück. Die Besuche ihrer Schwestern blieben aus. Allen fiel das Reisen schwer oder sie waren bereits verstorben. Wenn Oma noch gelegentlich kochte, dann war das meist mit lauten Selbstgesprächen verbunden. In der Küche schienen alle ihre Geschwister versammelt. Jedem hatte sie etwas zu berichten: Vati hatte das noch nicht erledigt, Mutti ließ sich nichts sagen; die Kinder hörten nicht. Sie plante mit allen die weiteren Arbeiten, die anstanden, fragte sich, ob sie dies oder jenes noch schaffe und wer ihr helfen könne. Ich konnte diese Selbstgespräche nicht einordnen, hatte Angst, sie würde ihren Geist verlieren. Dabei war ihr Geist nur in eine andere Zeit zurückgekehrt.
Zeitzeugin gewaltiger Umbrüche
An ihr letztes Lebensjahr habe ich kaum eine Erinnerung. Ich lernte in einer entfernten Stadt und kam nur an den Wochenenden nach Hause. Oma ist im Juni 1971 im Krankenhaus in der Kreisstadt gestorben. Leider konnte ich mich nicht von ihr verabschieden, was mich bis heute schmerzt. Sie wurde auf dem Dorffriedhof neben ihrem Mann, den sie 25 Jahre überlebt hatte, beerdigt. Der Grabstein wurde irgendwann entsorgt, angeblich aus baurechtlichen Gründen. Alle Gräber auf dem Friedhof wurden eingeebnet, so wie in vielen anderen Dörfern in Brandenburg, obwohl es diesen Friedhof im Dorf über 500 Jahre gegeben hatte.
Nach dem Krieg, in den schwierigen und unsicheren Zeiten, hat sie vielen Menschen aus der engen und weiteren Verwandtschaft, aber auch wildfremden Menschen eine Unterkunft geboten, sie mit Essen versorgt. Vor allem die Unsicherheiten, wie es mit dem Hof weitergehen würde, müssen sie stark belastet haben. Würde auch sie noch enteignet? Würde mein Vater den Hof weiterführen oder würden die jungen Leute ebenfalls in den Westen gehen?
Sie war eine Zeitzeugin gewaltiger Umbrüche. Hat sie das pulsierende Leben in Berlin gesehen? Die Hauptstadt war mit dem Zug in etwa einer Stunde erreichbar. Sie hat nie davon berichtet. So gelassen wie sie äußerlich wirkte, hätte sie das Großstadteben wohl kaum interessiert. Einerseits die Menschen, die in großen Fabriken schuften mussten, um ihre Familien durchzubringen; andererseits diejenigen, die das große Vergnügen suchten und fanden. Das war nicht ihre Welt.
Sechs Familiengeschichten: Was schweißt Geschwister zusammen, was trennt sie?
Für uns ist es heute normal, in ein anderes Land zu reisen oder gar dort zu leben. Zu ihrer Zeit war das für eine Bauersfrau undenkbar. Man fuhr ins Städtchen zum Einkaufen, vielleicht mal nach Jüterbog oder mit der Kleinbahn nach Luckenwalde.
Ich habe Oma als bodenständig, selbstbewusst, tatkräftig und fleißig erlebt. Das habe ich bewundert. Viele Jahre nach ihrem Tod habe ich mir in persönlichen Krisensituationen immer wieder ein Jugendfoto von ihr angesehen und meine kleinen oder großen Probleme an ihrer Ausstrahlung und ihren Lebensumständen gemessen. Meist verkleinerten sich meine Sorgen.
Bewundert habe ich stets, wie sie die Krisen in ihrem Leben mit einer gefassten Ruhe meisterte: Immerhin hat sie zwei Kriege bewusst erlebt. Der Erste Weltkrieg begann, als sie 22 Jahre alt war; das Deutsche Reich brach zusammen, der Kaiser musste abdanken. Welchen Einfluss hatte das auf die Bauern, auf ihren Hof? Sie waren von der Inflation in den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts betroffen. Aber immerhin hatten sie zu essen, weil sie zu der Zeit fast alle Lebensmittel und auch die Kleidung selbst produzierten. Eine andere Welt kannte sie nicht. In diese Welt war sie hineingeboren worden und mit fünf Geschwistern aufgewachsen. Das Landleben um 1900 war von harter körperlicher Arbeit geprägt. Das galt auch für die Kinder, die früh mit anpacken mussten. Oma Alwine hat sich nie darüber beklagt. Meine Oma Lydia dagegen erzählte häufiger vom Schafe Hüten und wie anstrengend das für sie als Kind gewesen sei. Den ganzen Tag mit den Schafen und einem Hund unterwegs, egal ob die Hitze groß war, es regnete oder die Tage kühler wurden. Niemand interessierte, ob die Hausaufgaben schon erledigt waren. Vielleicht gab es auch keine, weil die Dorfschullehrer wussten, dass die Kinder dafür eh keine Zeit hatten und auf einer Schiefertafel war ohnehin nicht viel Platz.
Gearbeitet wurde auf einem Bauernhof eigentlich immer: Entweder auf dem Feld, im Stall oder im Garten, zudem gekocht, eingeweckt und im Winter gestrickt. Oma hat noch Schafwolle gesponnen und auf dem Webstuhl verarbeitet. Als Kind habe ich drei oder vier Webstühle auf unserem Abstellboden gesehen, die zu dieser Zeit nicht mehr benutzt wurden. Auch ein Spinnrad gab es, das jemand aufkaufte oder mitnahm, weil es in den 1970er Jahren modern wurde, sich diese Gegenstände als Deko in die Wohnung zu stellen.
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Im Winter wurden beispielsweise Federn gerissen. Auf unserem Bauernhof gab es viele Gänse und Enten. Die Tiere wurden regelmäßig im November geschlachtet, dann gebraten, eingeweckt, jedes Teil des Tieres wurde verarbeitet. Die Federn wurden in Papiersäcken aufbewahrt und meist im Januar oder Februar, wenn die Arbeiten draußen eingestellt waren, gerissen. Dafür kamen befreundete Frauen aus dem Dorf. Man half sich reihum beim Federn Reißen. Meine Mutter hat das geliebt. Es wurde viel erzählt, Eierlikör getrunken und gelacht. Mutti hat später, zu LPG-Zeiten, gesagt, dass man früher viel mehr mit der Natur und den Jahreszeiten gelebt hat; es im Winter mal weniger Arbeit und etwas Ruhe gab.
Alle, die einer Arbeit auf dem Hof nachgingen, mussten beköstigt werden. Das war die Arbeit der Frauen, was sie aber nicht von der Arbeit auf dem Feld, im Stall oder Garten entlastete. Kinder gab es regelmäßig viele. Alwine hatte keine. Das wird sie oft belastet haben, auch wenn darüber nicht gesprochen wurde.
Das Leben wurde, jedenfalls äußerlich, mit einer Gelassenheit getragen, die heute kaum noch vorstellbar ist. Sicher zeigt sich darin auch eine Art von Ergebenheit in die Verhältnisse oder die Lebenssituation, die nicht in Frage gestellt wurde. Auf den Besitz war sie stolz, wobei dieser vor allem verpflichtete. Geprägt vom preußischen Protestantismus wurde vom Beginn bis zum Ende des Lebens gearbeitet. Kein Sonntag ohne Arbeit, denn zumindest die Tiere mussten versorgt werden. Am Vormittag ging es in die Kirche, auch wenn dem nicht alle Familienmitglieder folgten. Oma Alwine ging nicht jeden Sonntag, aber regelmäßig in die Kirche, das gehörte einfach dazu. In den letzten Jahren ihres Lebens war sie mit zwei oder drei anderen Personen oft die einzige im Gottesdienst. Sie wollte von Gott aufgenommen werden, weil sie spürte, dass das Ende nahte. Der Pfarrer sollte sie kennen, eine gute Grabrede halten, all das war ihr sehr wichtig.
Diese Welt gibt es nicht mehr. Es bleiben die Erinnerungen an warme Sonnentage, große Kuchen und an Oma, die immer für uns da war.
Eine erste Version dieses Beitrags erschien am 27.04.2024.