Kevin Carter/Sygma/Getty Images, Dan Kraus, DSNS Ukraine (2)
Kriegsfotografie
Soll ich tote Kinder zeigen?
Ich veröffentliche oft Fotos aus der Ukraine in meinen sozialen Netzwerken - auch Fotografien, die den Tod darstellen. Oft sind tote Kinder zu sehen. Soll ich das machen?
privat
05.03.2024

Diese Bilder sind sehr schwer anzuschauen. Kürzlich erhielt ich eine Nachricht von einer guten Freundin, die in Deutschland lebt und die ich sehr respektiere. Sie schrieb mir, ich solle aufhören, solche Fotos zu veröffentlichen. Ihr Ton war hart und kategorisch. Sie erklärte, dass diese Fotos sie traumatisieren und im Allgemeinen nutzlos seien, da jeder bereits wisse, was in der Ukraine passiert, und die ständige Erinnerung, selbst in so schwerwiegender Form, nur Irritationen hervorrufe.

Ich kann sie verstehen.

Vor drei Jahren wäre meine Reaktion auf solche Fotos höchstwahrscheinlich dieselbe gewesen. Kriege passieren ständig. Aber müssen wir uns ständig Dokumentarfotos anschauen? Denn durch die Entwicklung der sozialen Netzwerke wird die Zahl dieser Fotos endlos..

Erinnern Sie sich an das berühmte Foto „Der Geier und das  kleine Mädchen“? Es wurde von Kevin Carter gemacht. Dieses Foto erschien erstmals am 26. März 1993 in der “New York Times”. Auf dem Foto ist ein verhungernder Junge zu sehen (ursprünglich glaubte man, es handele sich um ein Mädchen). Ein Geier landete neben dem Kind und erwartete, dass das Kind sterben würde. Der Autor des Fotos erhielt dafür 1994 den Pulitzer-Preis. Doch bald kam es zu einer Welle öffentlicher Kritik: Warum der Fotograf dem Kind nicht half, sondern einfach ein Foto von ihm machte. Carter beging vier Monate nach Erhalt der Auszeichnung Selbstmord.

Später wurde bekannt, dass sich das Kind in der Nähe des UN-Ernährungszentrums in Ayod (Sudan) befand und auf seine Eltern wartete, die in diesem Moment humanitäre Hilfe holen wollten. Carter war es wie anderen Fotografen verboten, sich dem Ernährungszentrum und den Anwohnern zu nähern, da zu dieser Zeit mehrere Infektionskrankheiten auf dem Höhepunkt waren und Fotografen sie mitbringen konnten. Dieses Foto wurde während des Krieges im Sudan aufgenommen, der 22 Jahre dauerte und Millionen Menschen tötete. Millionen flohen aus dem Land. Es waren Zeiten des Völkermords, der Hungersnot, des Terrors, der Kriegsverbrechen.

Nach Carters Selbstmord wurde ein Buch über die Arbeit seines “Bang-Bang Club” veröffentlicht und später ein Film gedreht. “Bang-Bang Club” war eine Gruppe von vier Fotografen, die von 1990 bis 1994 Kriegsverbrechen und Konflikte in Südafrika fotografierten. Unter ihnen sind Kevin Carter, Greg Marinovich, Ken Oosterbroek und Joao Silva.

Kevins Abschiedsbrief war sehr emotional. Er gab zu, dass ihn schmerzhafte Erinnerungen und schreckliche Bilder vor seinen Augen verfolgten: Leichen, Sadisten, sterbende und hungrige Kinder. Er war nur 33 Jahre alt.

Zweck der Kriegsfotografie

Die weltberühmte Schriftstellerin Susan Sontag hat einen wunderbaren Essay mit dem Titel „Das Leiden anderer betrachten” geschrieben. Dort reflektiert sie über Kriegsfotografie: ihren Wert, ihre Wirksamkeit und ihre Auswirkungen auf die Psyche. Sie befürchtet insbesondere, dass Kriegsfotos, die zu oft veröffentlicht werden, dazu beitragen könnten, den Schock zu normalisieren, sodass der Tod unschuldiger Menschen und Kinder nicht mehr schockierend sei. 

Sontag äußert auch die Befürchtung, dass Menschen, die sich Kriegsfotos ansehen, nicht wirklich Mitleid mit den Opfern haben, sondern eine Art Freude darüber empfinden, dass ihnen das nicht widerfährt. Laut Sontag sollte der Zweck der Kriegsfotografie darin bestehen, ein bestimmtes Verbrechen zu fixieren und Druck auf politische Leader auszuüben, damit bestimmte Verbrecher vor Gericht gestellt werden. Alles, was über diese Ziele hinausgeht, kann negative Folgen haben.

Ich habe Angst

Ich verstehe, was Susan Sontag sagt, und stimme ihr in vielerlei Hinsicht sogar zu. Tatsächlich ist Kriegsfotografie dank der Entwicklung sozialer Netzwerke weit verbreitet und wird zur Erstellung von Fake News und (oft) destruktiver Propaganda eingesetzt. Fotos von Tatorten werden an falschen Stellen verwendet oder mit verzerrten Informationen versehen. 

Warum mache ich dann das weiterhin?

Wahrscheinlich, weil ich Angst habe. Ich habe Angst, dass ein weiterer Krieg über 22 Jahre dauern und Hunderte von Kindern das Leben kosten könnte. Wie zum Beispiel am 2. März 2024 in Odessa, als unter den Trümmern eines ausgebombten Wohnhauses fünf Kinder gefunden wurden: 4 Monate, 8 Monate, 3 Jahre, 8 Jahre und 9 Jahre alt. Keines dieser Kinder überlebte. Auf dem Foto sah ich diese kleinen, zerbrechlichen Körper unter der Last des Betons. 

Haben wir uns an den Krieg gewöhnt? Eine Kolumne von Tamriko Sholi

Ich könnte schreien, wenn ich solche Fotos sehe - auch aus anderen Regionen der Welt. Und dass ich selbst solche Fotos in sozialen Netzwerken veröffentliche, ist mein Art zu schreien. Mein verzweifelter Schrei, dass ein weiterer Krieg noch viele Jahre dauern könnte.

Die Kommentarfunktion ist nur noch für registrierte Nutzer verfügbar. Um einen Leserkommentar schreiben zu können, schließen Sie bitte ein Abo ab, schreiben Sie uns eine Mail an leserpost@chrismon.de oder diskutieren Sie auf Instagram, Facebook und LinkedIn mit.
Permalink

Als Kind wurde ich traumatisiert/geprägt durch die Bilder von hungernden und toten Kinder in Biafra.
Die Fragen um das WARUM? haben dazu geführt, daß ich die Philosophie der Bibel wahrhaftig, also entgegen der falschen Interpretationen verstanden habe und deshalb wirklich ein Kommunist wurde, für ein ganzheitlich-ebenbildliches Wesen Mensch in einem globalen Gemeinschaftseigentum "wie im Himmel all so auf Erden", UNKORRUMPIERBAR und OHNE wettbewerbsbedingte Symptomatik, auf der Basis eines wirklich-wahrhaftigen Menschenrechts zu KOSTENLOSER Nahrung, MIETFREIES Wohnen und ebenso KASSEN-/KOSTENLOSER Gesundheit, denn wenn GRUNDSÄTZLICH alles Allen gehören darf, hat "Wer soll das bezahlen?" und "Ökonomie" von/zu unternehmerischen Abwägungen keine Macht mehr.

Kolumne

Tamriko Sholi

Wer bin ich, wenn ich keine Heimatgefühle mehr habe? Was machen Krieg und Flüchtingsdasein mit mir? Darüber schreibt die ukrainisch-georgische Schriftstellerin Tamriko Sholi in Transitraum