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Von Country Music kannte ich eigentlich nichts. Außer die späten Alben von Johnny Cash. Aber die sind eine Welt für sich. Sonst hatte ich nur Klischees im Kopf: Schlagerkitsch für Reaktionäre, viel zu große Cowboyhüte für viel zu simple Liedchen. Nun hat mir eine neunteilige Dokumentation bei Arte Augen und Ohren geöffnet. Sie zeigt, wie es mit der Country Music angefangen hat – als echte Volksmusik bitterarmer Siedlerfamilien. Von dieser Armut, dieser Einsamkeit, dieser Aussichtslosigkeit der weißen Bauern hatte ich mir keine Vorstellung gemacht.
Zugleich aber gab es bei ihnen musikalischen Reichtum. Er speiste sich aus dem, was sie an Volksmusik aus Europa mitgebracht hatten. In der Neuen Welt entwickelten sie dies weiter auf der Geige, dem Banjo, der Gitarre, später dem Bass und Schlagzeug. Wichtig wurden die Einflüsse der neuen Nachbarn – mexikanischen oder afroamerikanischen Musikern. Es ist besonders interessant und bewegend zu sehen, dass diese angeblich so „weiße“ Musik von Beginn mit „schwarzer“ Musik interagiert hat.
Das zeigt sich auch in den religiösen Inhalten vieler Lieder. Man begegnet hier einer intensiven, mal verzweifelten, mal begeisterten Erlösungsfrömmigkeit, wie man sie von Spirituals der Afroamerikaner kennt. Hank Williams „I saw the light“ steht da direkt neben Gospel-Klassikern wie Tom Dorseys „Precious Lord“. Heute denkt man bei US-amerikanischer Religiosität leider sofort an reaktionären Extremismus. Wer sich aber mit den Anfängen der Country Music (und des Gospels) beschäftigt, begegnet einer vielleicht fremden, aber doch wertvollen Frömmigkeit, die damals verlorenen und verzweifelten Menschen Halt, Trost und Freude schenkte.
Zum Stauen und nicht selten zum Erschrecken sind die Geschichten, die diese Serie über einzelne Musiker erzählt: die Carter-Familie, die aus der Tiefe der Provinz das Radio eroberte, Hank Williams, das tragische Genie des Country, Charly Pride, der erste schwarze Country-Star, Merle Haggard, der ehemalige Häftling, Loretta Lynn, die erste Feministin, und natürlich der unvergleichlich kreative und unglückliche Johnny Cash, aber auch Kris Kristofferson, der als einziger aus einer wohlhabenden Familie stammte.
Ich könnte jetzt noch darüber schwärmen, wie diese Serie von den kulturellen und politischen Umbrüchen erzählt, wie die Frauenbewegung, die Bürgerrechtsbewegung, der Vietnam-Krieg Resonanzen in der Country Music fand, die den verbreiteten Klischees widersprechen. Aber das mache ich nicht, denn ich muss jetzt unbedingt die letzte Folge sehen.
P.S.: In meinem Podcast „Draußen mit Claussen“ spreche ich mit dem Theologen und chrismon-Kollegen Konstantin Sacher, der ein Buch über Dorothee Sölle, diese „Ikone des Linksprotestantismus“ geschrieben hat.