Die Fräse surrt, es klingt wie beim Zahnarzt, nur tiefer im Ton. Chefärztin Dr. Veronika Wolter bohrt sich in den Schädelknochen hinter dem Ohr der Patientin. Ein Monitoring-Gerät lotst sie mit akustischen Signalen nur wenige Millimeter am Gesichtsnerv vorbei. Hoch konzentriert schaut sie ins Mikroskop und fädelt mit Pinzetten eine hauchdünne Elektrode ein. "Das sieht gut aus. Wenn wir das hier so legen, verrutscht nichts", sagt sie zum Kollegen, der ihr assistiert. Ihr Ton ist freundlich, aber bestimmt.
Nach drei Stunden ist die Operation beendet. Veronika Wolter bedankt sich beim OP-Team für die gute Arbeit und verlässt den Saal mit aufrechter Körperhaltung und kraftvollen Schritten. Draußen streift sie Kittel und Haube ab. Hinter ihren Ohren hängen zwei dünne Rechtecke aus schwarzem Kunststoff: die Sprachprozessoren ihrer Cochlea-Implantate. Ohne diese Geräte wäre sie komplett taub.
Seit Juli 2022 leitet Veronika Wolter, Jahrgang 1981, die Hörklinik im Klinikum München West. Sie ist Deutschlands erste gehörlose Chefärztin in einem Akutkrankenhaus und die einzige gehörlose HNO-Chefärztin der Welt.
Rund 13 Prozent der Chefarztstellen in Deutschland sind laut dem Deutschen Ärztinnenbund von Frauen besetzt, obwohl an den Universitäten deutlich mehr Frauen als Männer den Abschluss in Humanmedizin machen. Der Konkurrenzdruck an den Kliniken ist enorm, Veronika Wolter hat ihn als Frau mit Behinderung nicht gescheut.
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