chrismon: Herr Waechter, Sie sind ein Kind der 68er-Generation. Was bedeutet das für Sie?
Philip Waechter: Meine Eltern sind von dieser Zeit geprägt und waren politisch engagiert. Ich besuchte einen der ersten Kinderläden. Der Freundeskreis meiner Familie bestand fast ausschließlich aus Menschen, für die die 68er-Bewegung eine große Bedeutung hatte.
Was waren die pädagogischen Vorstellungen in den Kinderläden der 70er Jahre?
Da hat man sich sehr viel Gedanken darüber gemacht, wie man Kinder aufwachsen lassen kann. Sie sollten freie, selbstständig denkende, kritische, emphatische und verantwortungsvolle Menschen werden. Das Wort Erziehung hat man nicht verwendet. Nur aus freien Menschen kann eine freie Gesellschaft entstehen.
An was erinnern Sie sich genau?
Oft ging es um die Frage von Gerechtigkeit: Wer hat Macht, wer profitiert von wem, mit welchen Mitteln? Hierarchien, Machtstrukturen und Status wurden hinterfragt, Zusammenhalt und Solidarität zwischen den Menschen, Gleichberechtigung und Emanzipation eingefordert. "Wie hat ein Junge zu sein, wie ein Mädchen?", da war der Wunsch, Rollenbilder aufzulösen. Uns Kindern wurden diese Themen durch Gespräche, aber auch über Bücher, über Kinderlieder und selbst über einstudierte Theaterstücke nähergebracht.
Philip Waechter
Vermutlich sind Sie antiautoritär erzogen worden . . .
Der Begriff "antiautoritär" führt oft in die Irre. Natürlich waren meine Eltern für mich Autoritäten. Aber ich bin niemals gehauen worden, sehr selten ausgeschimpft, weder in der Familie noch im Kinderladen oder in der Schule. Alle waren bemüht, ein "gleichberechtigtes" Verhältnis zu uns Kindern aufzubauen, wie man damals gesagt hat. Ich habe meine Eltern mit Vornamen angeredet. Und sie haben mich frei machen lassen. Wenn Probleme auftauchten, gab es keine Verbote oder Drohungen, sondern es wurde gesprochen, erklärt und gemeinsam eine Lösung gesucht.
Welche Grenzen gab es?
Viele. Es war klar, dass man rücksichtsvoll und empathisch miteinander umzugehen hat, dass man seine Freunde nicht an den Haaren zieht oder schlägt, dass man Verantwortung trägt, sich vor dem Essen die Hände wäscht, sich auch an gemeinschaftlichen Aufgaben und Arbeiten beteiligt. Ich kann mich auch nicht erinnern, dass ich hätte selbst bestimmen dürfen, wann ich ins Bett zu gehen hatte.
Wie war also Ihre Kindheit?
Schön, mit vielen Freunden, vielen Menschen, vielen tollen Erlebnissen, aufregenden Reisen. Eigentlich war immer eine Menge los. Meine Eltern haben sich getrennt, als ich sechs Jahre alt war. Wir drei Söhne haben fortan bei meiner Mutter Ute gelebt, waren aber auch häufig bei meinem Vater. Aber den Alltag hat er eher selten mit uns geteilt. Wir wohnten mit meiner Mutter in einem Haus mit vielen Kindern, die oft etwas zusammen unternommen haben. Meine Eltern haben uns ziemlich machen lassen. Sie wussten meistens nicht, wo wir uns so herumgetrieben haben.
Welche Grundhaltungen sind Ihnen bis heute wichtig und fließen in Ihre Arbeit mit ein?
Der Wunsch nach Gerechtigkeit. Aber das würden wahrscheinlich fast alle Menschen von sich behaupten. Ich finde es extrem ungerecht, dass es solch eine große Rolle spielt, auf welchem Flecken Erde man zur Welt kommt. Ich wünsche mir, besonders für alle Kinder, mehr Chancengleichheit, nicht nur in materieller Hinsicht. Ich wünsche jedem Kind freundliche und zugewandte Eltern, tolle Familien, Freundeskreise, Schulen. Ich möchte die Kinder in meinen Büchern ernst nehmen. Den kindlichen Blick auf die Welt zeigen, der oft noch grenzenlos ist, der Wünschen, Träumen, Fantasie und Utopien Raum lässt. Ich wünsche mir, dass Kinder sich in meinen Geschichten wiederfinden, sich verstanden und wertgeschätzt fühlen. Und natürlich will ich sie unterhalten, nicht langweilen – auch die Eltern nicht, die die Geschichten ja vorlesen.
Ihr Vater Friedrich Karl Waechter war Karikaturist und Mitbegründer der Satirezeitschrift "Titanic". Wie haben Sie ihn als Kind erlebt?
Er konnte sich sehr gut in eine Kinderseele hineindenken. Er hat mit mir und meinen zwei Brüdern gespielt und war dabei selbst oft wie ein Kind, hat mitgemacht und mitgefiebert. Manchmal hatte er nicht die Distanz, die man von einem Vater erwarten würde, und konnte sich beim Spielen richtig freuen, aber auch ziemlich ärgern. Er war ein leidenschaftlicher Mensch, hat gern gearbeitet, immer gezeichnet, sich immer etwas ausgedacht, war durch und durch kreativ. Manchmal war er dadurch aber auch wenig zugänglich, dann, wenn er ganz bei sich und seiner Kunst war. Das fand ich besonders als Jugendlicher und junger Erwachsener manchmal schwierig. Als ich älter wurde, wurde mir klar, wie frei er in seiner Arbeit war. Er hat sehr stark auf seine innere Stimme gehört.
Tun Sie das auch?
Ich versuche es. Spätestens, seitdem ich mir zutraue, eigene Geschichten zu machen und nicht mehr nur auf Texte zum Illustrieren angewiesen bin, fühle ich mich ziemlich unabhängig. Ich vertraue darauf, dass mir immer wieder eigene Ideen kommen.
Lesetipp: David Blums Jugendroman "Kollektorgang" über das Aufwachsen im Plattenbau im Osten
Welches Kinderbuch Ihres Vaters lieben Sie besonders und warum?
"Opa Huckes Mitmach-Kabinett" ist ein großartiges Buch, das geradezu explodiert vor guten Ideen. Eigentlich war es auch das Buch meiner Brüder und mir. Wir haben stundenlang am Schreibtisch meines Vaters gestanden, haben ihm beim Zeichnen zugesehen, haben Ideen ausgetauscht, Dinge besprochen und ausprobiert, die mein Vater dann umgesetzt hat.
Wie war Ihre Mutter?
Sie war und ist toll! Sie hat das mit uns drei Söhnen gut hingekriegt, hat gearbeitet, hat sich um uns gekümmert, uns aber auch immer machen lassen. Als ich 16 Jahre alt war, bin ich zum ersten Mal mit einem Freund für einige Wochen allein zum Zelten nach Frankreich gefahren. Das hat sie erlaubt, obwohl sie sich wahrscheinlich auch Sorgen gemacht hat. Und sie hat mich mein ganzes Leben unterstützt in dem, was ich vorhatte. Weder von meinem Vater noch von meiner Mutter habe ich jemals gehört: "Mach doch was Sicheres oder Anständiges", also nichts Künstlerisches.
"Die Kinder sind heute sehr eingebunden in Termine, Schule, Sportverein, Musikinstrument lernen"
Ist Kindheit heute anders?
Schwierig zu sagen, es gibt ja auch heute nicht die eine Kindererziehung. Ich denke aber, dass die Kinder heute wesentlich weniger Zeit für sich selbst haben, Zeit, in der sie wirklich unbeobachtet sein können. Die Kinder sind heute, so ist zumindest mein Eindruck, sehr eingebunden in Termine, Schule, Sportverein, Musikinstrument lernen. Meine Frau erzählt manchmal von Nachmittagen, an denen sie mit Freundinnen durch die Wälder gezogen ist, bis es dunkel wurde. Ich bin mit Freunden durch Frankfurt, ohne dass unsere Eltern Bescheid wussten. Das gibt es in dieser Form nur noch sehr selten, glaube ich.
Was geht dabei verloren?
Kinder brauchen Momente, in denen sie sich mal nicht begutachtet und schlimmstenfalls bewertet fühlen. Momente, in denen sie machen können, was sie wollen. Sich ausprobieren – und auch Grenzen ausloten können, um an ihnen zu wachsen und selbstständiger zu werden. Kinder können oft sehr gut selbst einschätzen, was sie sich zutrauen können.
Wann haben Sie angefangen zu zeichnen?
Schon als Kind. Mit meinem Vater und mit meiner Mutter. Auch meine Brüder haben gezeichnet. Wenn wir auf Reisen waren, haben wir in unsere Skizzenbücher gezeichnet – wie mein Vater. Und das hat bei mir eben nie aufgehört. Ich habe es geliebt, bei meinem Vater am Schreibtisch zu stehen und zu sehen, wie er was macht. Ich fand es magisch, wie er die Dinge zeichnerisch zum Leben erwecken konnte. Außerdem hatte ich das Gefühl, mein Vater hat einfach ein grandioses Leben – selbstbestimmt. Er konnte von dem, was er so gern tat, gut leben und wurde geschätzt.
Wie beschreiben Sie Ihren eigenen Stil?
Das überlasse ich lieber anderen. Ich wechsle gern den Stil, obwohl man meine Sicht auf die Dinge wohl immer erkennt. Ich liebe es, für Kinder zu zeichnen, brauche aber auch die Abwechslung und zeichne gern für Erwachsene. Ich war froh, als sich die Möglichkeit ergab, John Steinbecks "Die Straße der Ölsardinen" oder Jakob Arjounis "Happy Birthday, Türke!" für die Büchergilde Gutenberg zu illustrieren. Es macht auch Spaß, für die "FAZ" zu zeichnen – Gesellschaftliches oder Politisches.
Sie zeichnen jeden Tag in Ihr Tagebuch . . .
Nicht in ein Tagebuch, sondern seit dem 1. Januar 2000 auf postkartengroße "Tageskarten". Ich habe das bei einer Kollegin gesehen und hatte viel Spaß daran, mir die täglichen Aufzeichnungen anzugucken. Dann schenkte mir meine Frau zum Jahrtausendwechsel einen Stapel leere Postkarten. Es ist eine fantastische Übung, jeden Tag zu zeichnen, ohne dass es einen Zweck erfüllen muss. Es ist auch großartig, gucken zu können, was man am 3. November 2005 gemacht hat. Man vergisst so schnell, was den Alltag ausmacht.
Sie sind Fan des Fußballvereins Eintracht Frankfurt. Was begeistert Sie am Fußball?
Ich habe immer gespielt und wollte mit 13, 14 Jahren sogar Profifußballer werden. Utopisch, wie ich im Vergleich mit anderen schnell merkte. Aber sich mit Freunden einen Ball zu schnappen und spielen zu können, egal wo man hinkommt – fantastisch. Als wir einmal nach Venedig fuhren, hatten wir einen Fußball dabei, weil mein Sohn das so gern wollte. Wir hätten es nicht gedacht, aber schließlich standen wir jeden Tag auf irgendwelchen Piazzen und haben gekickt. Es hat jedes Mal keine drei Minuten gedauert und wir waren zu fünft oder zu zehnt und die Kellner aus den Restaurants kamen dazu, bevor ihre Schicht anfing. Ganz großartig!
Fußball ist immer wieder Ihr Thema. Zuletzt in "Toni – und alles nur wegen Renato Flash".
Ja, ein Junge wünscht sich sehnlichst die besten, tollsten und blinkenden Fußballschuhe – Renato Flash. Seine Mutter findet das quatsch, und so versucht er, sein Taschengeld aufzubessern. Daraus entwickelt sich allerlei.
Was inspiriert Sie?
Der Alltag. Dinge, die um mich herum passieren, Beobachtungen, auch Erinnerungen und Erlebnisse aus meiner Kindheit. Vieles ist erlebt, Erfundenes kommt hinzu. Manchmal tauche ich eine Woche ab oder fahre allein weg. Oft denke ich, was habe ich für ein privilegiertes Leben, dass ich meine Geschichten zeichnen kann, und die Verlage drucken das.
Wie findet Ihre Frau es, wenn Sie abtauchen?
Sie zeichnet auch und findet das gut. Sie macht das auch immer wieder mal. Wir gönnen uns gegenseitig diese intensiven Arbeitszeiten, die gleichzeitig Auszeiten für uns sind.
Ihr Bilderbuch "Ein Tag mit Freunden" ist von der Corona-Zeit inspiriert. Wie ist es entstanden?
Die Idee kam mir 2020. Ich hatte dieses Kinderlied im Kopf: "Ein Loch ist im Eimer, Karl-Otto, Karl-Otto, ein Loch ist im Eimer, . . ." Wenn ein Problem gelöst ist, ergibt sich ein neues, und die Geschichte kommt ins Rollen. Waschbär geht zu Fuchs, weil ihm langweilig ist, er einen Kuchen backen will und keine Eier hat. Aber Fuchs will gerade seine Dachrinne reparieren und braucht dafür eine Leiter – und so weiter. Es kommt zu einer Kettenreaktion, die schließlich Waschbär, Fuchs, Dachs, Bär und Krähe zusammenbringt. Es passiert nichts Spektakuläres. Aber sie freuen sich, zusammen sein zu können, das reicht. Und während ich das zeichnete, merkte ich, wie sehr die Geschichte in die Zeit passt, was uns allen in der Corona-Zeit so gefehlt hat. Es war ja nicht möglich, spontan Freunde zu treffen und die Dinge auf sich zukommen zu lassen.
Welchen Traum möchten Sie sich noch erfüllen?
Ich würde gern einmal eine Zeit lang am Meer leben, vielleicht ein halbes Jahr oder so. Ich hätte dann ein Fischerboot und würde zum Angeln fahren. Ich hätte nicht das Gefühl, ich muss noch dieses und jenes tun, noch ganz dringend Bilder fertig zeichnen oder sonst was erledigen. Für den Moment wäre alles getan, und ich könnte einfach nur auf das Meer hinausfahren und angeln – eine Makrele vielleicht.
Toni. Und alles nur wegen Renato Flash. Beltz 2018. 67 Seiten, 14,95 Euro
Ein Tag mit Freunden. Beltz 2021. 28 Seiten, 14 Euro
Sohntage. Beltz 2008. 54 Seiten, 9,90 Euro