chrismon: Worum geht es in Ihrem ersten Pferdebuch für Kinder "Socke und Sophie"?
Juli Zeh: Das Buch erzählt aus zwei Perspektiven die Geschichte, wie ein zwölfjähriges Mädchen und ein traumatisiertes Pony lernen, miteinander umzugehen und Kommunikation zu entwickeln: Als Leserin erfährt man die Ereignisse sowohl aus der Sicht von Sophie als auch – und das ist besonders – aus der Sicht von Pony Socke.
Juli Zeh
Warum war Ihnen die Sicht des Ponys wichtig?
Wir neigen dazu, Pferde zu vermenschlichen und zu glauben, dass sie zum Beispiel trotzig reagieren oder dass sie uns mit einem bestimmten Verhalten ärgern wollen. Das ist aber niemals der Fall. Wenn sich ein Pferd zum Beispiel weigert, an einer blauen Mülltonne vorbeizugehen, obwohl das aus unserer Sicht wirklich keine Gefahr darstellt, dann könnten wir auf die Idee kommen, dass uns das Pferd "veräppelt". Aus der Sicht des Pferdes, eines Fluchttiers, ist es aber ein logisches Verhalten, sich von allem, was es nicht einschätzen kann, unbedingt fernzuhalten.
Warum haben Sie kein Sachbuch oder keinen Ratgeber geschrieben?
Weil ich dann nicht die Gedanken des Ponys hätte schildern können. Und weil ich selbst gern spannende Geschichten lese und deshalb auch welche schreibe. Wenn man beides miteinander verbindet, Wissensvermittlung und Lesevergnügen, ist das doch das Beste, was einem Buch passieren kann.
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Sophie lernt nach und nach, ein verstörtes Pony auf angemessene Art zu führen. Wie kann Kindern das gelingen?
Jedes Kind, das Pferde liebt und reitet, sollte wissen, wie man sich mit einem Pferd verständigen kann. Zum einen ist das wichtig für die Sicherheit beim Umgang mit diesen großen und starken Tieren. Zum anderen erfährt man erst dann, was das Wunderbare an diesem Sport ist. Nicht nur die Kunst des richtigen Reitens, sondern auch und vor allem die Kommunikation mit einem Wesen, das ganz anders ist als wir Menschen und uns trotzdem seine Freundschaft anbietet.
"Pferde verzeihen uns viel"
Was sind die wichtigsten Unterschiede zu uns Menschen?
Pferde sind Fluchttiere, und sie gehorchen ihren Instinkten. Sie folgen einer vollkommen anderen Logik als wir Menschen, die ja, evolutionär betrachtet, eher Jäger sind. Für ein Pferd gilt: Lieber hundertmal zu viel flüchten als einmal zu wenig. Ein anderer wichtiger Punkt ist, dass Pferde Herdentiere sind, die grundsätzlich bereit sind, sich mit anderen Wesen anzufreunden, ohne erst zu fragen, ob dieses Gegenüber es wert ist, die Freundschaft auch zu verdienen. Das ist der Grund, warum wir überhaupt eine Beziehung mit diesen wunderbaren Tieren eingehen können und warum sie auch immer wieder bereit sind, uns unsere Fehler zu verzeihen.
Sie haben zwei Kinder und auch zwei Pferde. Wie entwickelt Reiten die Persönlichkeit?
Der Umgang mit den Pferden gibt Selbstbewusstsein und steigert in hohem Maße die Fähigkeit, sich in andere Lebewesen einzufühlen: zu erkennen, dass sie anders sind als man selbst, dass es gerade deshalb wichtig ist, sie zu respektieren, und dass dieser Respekt dazu führt, dass man in eine schöne Beziehung miteinander eintreten kann.
In Ihrem Roman "Unterleuten" ist eine der Protagonistinnen die pferdebesessene Linda. Sie versucht, ihren Pferdeführungsstil auf Menschen zu übertragen und so alle im Griff zu haben. Woran scheitert sie?
Linda verwechselt selbstbewusstes In-Kontakt-Treten mit Dominanz. Das passiert vielen Menschen. Sie machen die Beziehung zu anderen zu einer Egoangelegenheit. Kann ich dich beherrschen? Kann ich dich manipulieren? Wie bekomme ich, was ich von dir will? Dieser Weg führt meistens ins Unglück, weil er dazu führen kann, dass man sich schuldig macht und es zu spät merkt. Wer nicht in der Lage ist, die Perspektive eines Gegenübers einzunehmen und die Welt immer nur durch die eigenen Augen sieht, wird unter Umständen gar nicht mitkriegen, wenn er eine Grenze unwiederbringlich überschreitet.
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"Unterleuten" ist 2016 erschienen und wirft einen gnadenlosen Blick auf Neu- und Altbrandenburger in einem Dorf. Sie sind 2007 ins Havelland gezogen. Wie haben Sie Ihr Dorf damals erlebt?
Ich habe mich sofort in das Dorf und vor allem in die Nachbarschaft verliebt. Als Städterin wusste ich wenig über das Landleben und musste vieles neu lernen. Die Menschen hier haben mir die Chance gegeben, das auf eine ruhige Weise zu tun. Jeder hier darf sein, wie er will, und kann als Teil der Gemeinschaft funktionieren, wenn er bereit ist, ein paar Regeln des Zusammenlebens zu akzeptieren. Zum Beispiel, dass Humor und Hilfsbereitschaft tragende Säulen des Umgangs sind. Ein so gelassenes Einander-sein-Lassen war mir aus den Städten, in denen ich gelebt hatte, gar nicht mehr vertraut. In der Stadt waren die Leute sehr damit beschäftigt, sich übereinander aufzuregen.
"Der Umgangston wird schärfer"
Ihr neuer Roman "Über Menschen" spielt auch auf dem Land in Brandenburg, hat aber einen viel menschenfreundlicheren Ton als "Unterleuten". Wie kommt das?
Das hat nichts mit Erfahrungen zu tun, sondern mit der Frage, welche Geschichte erzählt wird. "Unterleuten" handelt davon, wie Vertrautes auseinanderbrechen kann. In "Über Menschen" wird erzählt, wie Fremdes zusammenwächst.
Aber warum wollten Sie jetzt davon erzählen, wie Fremdes zusammenwächst und damals vom Gegenteil?
Mich interessieren menschliche Beziehungen in allen ihren Facetten – als Erfolgsgeschichten oder als Scheitern. Hinzu kommt, was die Gesellschaft, in der wir leben, nach meinem Gefühl gerade am meisten prägt. Seit einigen Jahren erleben viele Menschen, wie Freundschaften oder Bekanntschaften scheitern, weil auf einmal politische oder andere Fragen dazwischengeraten. Der Umgangston wird schärfer, Menschen sind schneller beleidigt, wissen nicht mehr, wie sie zueinanderfinden. Um dieses Phänomen, das manchmal Polarisierung genannt wird, geht es unter anderem in "Über Menschen".
Dora, die Hauptperson, hat einen Neonazi als Nachbarn, der im Laufe der Geschichte in eine elende Situation gerät. Gegen Ende des Romans dämmert ihr, dass es nicht darum geht, für oder gegen Nazis zu sein. Das Zauberwort heißt "Trotzdem". "Trotzdem weitermachen, trotzdem da sein. Da drüben liegt ein Mensch." Ist das auch Ihr Credo?
Das ist schlicht und ergreifend die Botschaft der Nächstenliebe, die unserer gesamten Kultur zugrunde liegt und an die wir uns trotzdem erschreckend selten erinnern.
Warum haben Sie sich jetzt in Ihrem Roman daran erinnert?
Weil es eine wichtige Antwort auf die Frage ist: Wie wollen wir miteinander leben? Und diese Frage scheint sich zurzeit, auch aufgrund der Corona-Pandemie, noch einmal mit verschärften Vorzeichen zu stellen.
Was denken Sie über Neonazis?
Ich lehne jede Ideologie strikt ab, die darin besteht, Wertunterschiede zwischen Menschen zu machen und sich selbst als etwas Besseres zu sehen als andere. Ganz egal, von welcher Seite diese Ideologie kommt. Respekt vor anderen Menschen, auch vor anderen Wesen, eigentlich vor allem, was lebt, ist für mich eine sehr wichtige Maxime. Mit der Naziideologie verträgt sich das überhaupt nicht.
"Die Politik ignoriert die Defizite"
Was brauchen die Brandenburgerinnen und Brandenburger?
Die Menschen in ländlichen Regionen leben häufig unter Bedingungen, die die Bewältigung des Alltags schwierig bis fast unmöglich machen. Die Politik ignoriert diese Defizite, wie überhaupt die soziale Frage in den vergangenen Jahren ziemlich hartnäckig ignoriert wird. Viele Menschen sind dramatisch unterbezahlt, besonders in Kranken- und Pflegeberufen, die hier ein wichtiges Berufsfeld ausmachen. Gleichzeitig haben sie lange Arbeitswege, für die Kinder stehen zu wenig Schulen bereit, schon Sechsjährige müssen ewig Bus fahren, um zu ihrer Grundschule zu kommen. Es gibt keine Ärzte, keine Apotheken, keine Gaststätten, keine Kultureinrichtungen oder Freizeitmöglichkeiten. Die heimische Landwirtschaft wird von einer ignoranten Agrarpolitik zusehends unter Druck gesetzt, wobei Existenzen ruiniert und Arbeitsplätze vernichtet werden. Was soll ich sagen? Es gäbe eine Menge ganz konkreter Dinge zu tun.
Was würde bei Ihnen im Havelland helfen?
In meinem privaten Umfeld helfe ich mit Spenden an verschiedene örtliche Institutionen wie Feuerwehr, Kindergarten, Hort oder Schule, und ich schaffe es auch immer mal wieder, einem Bekannten unter die Arme zu greifen, der in einer schwierigen Lage ist. Aber als Einzelne kann ich nicht die strukturellen Probleme beheben, die ich eben beschrieben habe. Wenn Eltern nicht mehr wissen, auf welche weiterführende Schule sie ihre Kinder schicken sollen, weil für Dorfkinder keine Schulplätze in den Städten zur Verfügung stehen, dann muss der Staat dringend aktiv werden – ein Beispiel von vielen.
Über Menschen. Luchterhand 2021. 416 Seiten, 22 Euro.
Unterleuten. Luchterhand 2016. 640 Seiten, 24,99 Euro.
Eine erste Version des Textes erschien am 27. Oktober 2021.
Juli Zeh: Socke und Sophie. Pferdesprache leicht gemacht, dtv 2021, 230 Seiten, 14,95 Euro.